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Das Jahr 2018 war gekennzeichnet von vergleichsweise großen Protestbewegungen. Im Hambacher Forst demonstrierten 50000 Menschen, bei unteilbar in Berlin weit über 200000, zu antirassistischen und antifaschistischen Demonstrationen kommen durchaus auch 30000 oder, wie bei dem «Wir sind mehr»Konzert in Chemnitz, doppelt so viele zusammen. Die Hegemonie rechtspopulistischer und rassistisch-völkischer Themen in der Öffentlichkeit und den Medien scheint aber weiterhin ungebrochen.

Das Buch der 1983 geborenen Journalistin Julia Fritzsche hat zwei Ebenen. Fritzsche sucht zum einen Orte und Zusammenschlüsse auf, an denen sich diese neuen Bewegungen materialisieren und an denen jetzt an einer anderen, besseren Zukunft gearbeitet wird: Antirassistische Aktivist_innen in München, Streikende im Krankenhaus und queerpolitisch engagierte. Zum anderen stellt sie vier aktuelle, dazugehörige politische, «theoretische» Ansätze in begreiflichen Worten vor: Care Revolution, Buen Vivir, Antirassismus und queere Politiken. In diese werden schon heute neue Begehren formuliert und auch neue Formen der Beteiligung und ausprobiert.

Care verweist darauf dass, entgegen den Bildern des Marxismus, zwei Drittel der gesellschaftlichen Arbeit unbezahlt, dezentral und unter anderem deswegen «unsichtbar» geleistet wird. Buen Vivir darauf, dass Wachstum für eine moderne Linke kein positiv besetzter Begriff mehr sein kann, und Natur, Konsum und Ernährung heute zu einem umfassenden Verständnis von Befreiung dazu gehören. Hier findet dann die Kritik an Extraktivismus und die positive Vision solidarischer Ökonomien ihren Ort. Queerness bedeutet eine Vielfalt und Gleichwertigkeit geschlechtlicher Lebensweisen, die sich allesamt gegen die toxische Gewalt von Männern richten. Das schwierigste und umstrittenste Feld dürfte derzeit das des Antirassismus sein. Wie geht eine Linke damit um, dass es Gewinner_innen und viele Verlierer_innen in der Passlotterie, in der Lebenschancen vor allem nach dem Geburtsort zugeteilt werden, gibt? Wie kann die vielzitierte Willkommenskultur zu einer aktiven Kultur des Ankommens und Miteinanders weiterentwickelt und gestaltet werden? Können «solidarische Städte» dabei ein Instrument sein?

Fritzsche plädiert für «radikal bunte» (sprich identitätspolitische) und ebenso für «tiefrote» (sprich Umverteilungs-) Ansätze. Sie vermeidet so die Entgegenstellung von Anerkennungs- und Umverteilungspolitiken, von kultureller und sozialer Linker, und plädiert vehement gegen Dichotomien und Spaltungen. Ihr gelingt es vorzüglich, die politische Kritik mit der praktischen Ebene zu verbinden. Sie kann so zeigen, dass z.B. das Streben nach mehr Gleichheit keinen Verlust von Individualität bedeuten muss. Positives Framing, wie z.B. bei ausgehetzt in München oder unteilbar in Berlin ist dabei von großem Vorteil.

Fritzsche hat ein tiefrotes und radikales und doch buntes Buch geschrieben. Eines das gut für die organisierte Linke, und ebenso für die anpolitisierte Nachbarin oder den resignierten WG-Mitbewohner, ja selbst für die eigenen Eltern, oder Kinder geeignet ist.

Julia Fritzsche: Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung, Edition Nautilus, Hamburg 2019, 192 Seiten, 16 EUR

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