Wir erfuhren zuerst aus der russischen Wirtschaftszeitung Businessonline, dass der russische und sowjetische Wirtschaftswissenschaftler, der emeritierte Professor an der Staatlichen Universität Moskau und Direktor des Instituts für Sozioökonomie an der Moskauer Universität für Finanzen und Recht gestorben ist. Ein Schlaganfall riss Alexander im Alter von 69 Jahren aus seinen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten, die eine konsequente Absage an jeglichen Nationalismus und Chauvinismus waren. Das machte der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Zusammenarbeit einfach, auch wenn Alexanders Ideen und Vorschläge oft enorm herausfordernd waren. Wir haben Alexander Buzgalin 1990 kennengelernt und trafen ihn oft dort, wo Linke aus Europa und aller Welt in den sozialen Bewegungen und wissenschaftlichen Netzwerken gemeinsam ihre politischen Wirkungsbedingungen analysieren und an gesellschaftlichen Alternativen arbeiten. Alexander ging es dabei auch und insbesondere um die Teilhabe von Linken aus Russland, den Nachfolgestaaten der UdSSR und des sog. „sozialistischen Lagers“, um zu lernen, spezifische Erfahrungen und Einsichten in die Debatte einzubringen.
1954 geboren und die Kindheit mit den Eltern an verschiedenen Orten der Sowjetunion verbracht, trat Alexander 1971 in die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau ein. 1976 erlangte er das Diplom. Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Aspirantur nahm er 1979 an derselben Fakultät die offizielle Berufstätigkeit auf und ist dort bis zu seinem Tod in Lehre und Forschung aktiv geblieben. 1979 verteidigte er seine Dissertation zu “Widersprüchen der planmäßigen Organisation der sozialistischen Produktion” und 10 Jahre später seine Habilitation über “Planmäßigkeit der sozialistischen Produktion. Inhalt und Richtungen ihrer Verbesserung unter den gegenwärtigen Bedingungen”. 1990 wurde ihm eine außerordentliche Professur verliehen, 1991 eine ordentliche am Lehrstuhl für politische Ökonomie. Eine langjährige Freundschaft verband ihn mit seinem Kollegen Andrej Kolganov, der ebenfalls hochgradig wissenschaftlich und politisch aktiv ist und mit der RLS kooperierte. Buzgalin betreute mehr als 25 Dissertationen und Habilitationen. Neben seiner umfangreichen Lehre und Forschung arbeitete er als Chefredakteur der Zeitschrift “Voprosy politicheskogo ekonomika” (Fragen der politischen Ökonomie).
Mitte der 1980er Jahre organisierte Alexander einen Diskussionskreis an der Lomonossow-Universität, später einen Klub für unabhängige marxistische Studien. Er gehörte zu den Begründer:innen der Föderation Sozialistischer Sozialklubs. Anfang 1994 initiierte er die Organisation der Bewegung “Wissenschaftler:innen für Demokratie und Sozialismus” und richtete hierbei seine Aktivitäten vor allem auf die Organisation wissenschaftlich-theoretischer und propagandistischer Arbeit. 1990-1991 war er Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU. 1991 rief er gemeinsam mit anderen die unabhängige linke Zeitschrift “Alternativy” in das Leben. Diese stand Autor:innen der RLS immer offen. Seine Aktivitäten halfen, im Jahre 2000 die Gesamtrussische soziale Bewegung “Alternativy” zu gründen und offiziell zu registrieren. Alexander gehörte zu den Initiator:innen der Russischen Sozialforen 2005, 2006 und 2018, an denen auch die RLS beteiligt war. Selbst im Kriegsjahr 2022 versuchte er auf einem Sozialforum, für „ein breites Bündnis zur Überwindung des Kapitalismus und die Entwicklung von Alternativen“ zu werben. Auf den Europäischen und Weltsozialforen und auf wissenschaftlichen Konferenzen in Lateinamerika oder Asien sind wir oft gemeinsam mit Alexander aufgetreten, haben uns herzhaft gestritten und hinterher Gemeinsamkeit gefeiert.
Alexander Buzgalin verstand sich ein „Vertreter der postsowjetischen Schule des Marxismus“ und erlangte international Aufmerksamkeit für sein Konzept des sowjetischen „Mutationssozialismus“, was ihn in den Augen mancher Kolleg:innen als „Trotzkisten“ auswies. Diese Bewertung teilte er mit Boris Kargalitzki. Leider wurden beide hin und wieder als gegeneinander konkurrierend wahrgenommen. Alexanders „Trotzkismus“ erfuhr scheinbare Bekräftigung durch sein Engagement für eine Qualifikation der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Seine vielleicht wichtigste Leistung für die Entwicklung kritischer Gesellschaftsanalyse aber war die Schaffung eines Wissenschaftszentrums für marxistische Forschungen an der philosophischen Fakultät der Moskauer Universität. Dieses Zentrum gab in seinen Veranstaltungen trotz der immer komplizierter werdenden politischen Bedingungen Marxist:innen verschiedener Generationen die Möglichkeit zu internationalem Austausch.
Alexanders Publikationsliste weist etwa 350 Titel auf, darunter mehr als 100 Artikel in den wichtigsten politökonomischen und wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschriften des Landes und international. Viele Arbeiten sind in der Kooperation mit Andrej Kolganov entstanden. Alexander sah seine wohl größte wissenschaftliche Leistung in seinem Beitrag an den gemeinsam mit Kolganov veröffentlichten zwei Bänden „Das globale Kapital“. Zentrale Gedanken des Werkes sind unlängst unter dem Titel „Twenty-first-century capital: critical post-Soviet Marxist reflections“ in englischer Sprache erschienen. Auch das Lehrbuch “Die klassische Politische Ökonomie” ist eine kollektive Arbeit von Buzgalin, Kolganov und Barashkova, das 2018 mit dem Publikumspreis “Wirtschaftsbuch des Jahres” ausgezeichnet wurde.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat sie alle schmerzlich getroffen. Das gilt nicht zuletzt für die liebenswerte wissenschaftlich wie politisch außerordentlich talentierte Sozialistin Ljudmila Alekseevna Bulavka-Buzgalina, die langjährige Freundin, engste Kampfgefährtin und Ehefrau von Alexander. Auch sie war eine enge Partnerin der Stiftung und wir fühlen uns gerade jetzt auf das Engste mit ihr verbunden. Unser tiefempfundenes Beileid, liebe Ljudmilla.