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Während in den Medien die Folgen der Prigozhin-Affäre verhältnismäßig breit dargestellt werden, bleiben die Kriegsgegner*innen und die Linken weitgehend außer Betracht. Nun sind die spektakulären Seiten, wie etwa die Entlassung eines Generalmajors nach Kritik an der Armeeführung, attraktiver als Berichte über die Kleinarbeit von Gruppen, die unter ständig wachsendem Druck der Sicherheitsorgane stehen. Neben kleinräumigen (und oft kreativen) Protesten ist die Unterstützung von politisch Verfolgten, politischen Gefangenen, Wehrdienstverweigerern und Kriegsopfern ein wichtiges Feld der Tätigkeit der verschiedensten Antikriegsbewegungen. Die Auslandssektionen des Feministischen Widerstands organisieren alleine oder mit Partner*innen in ihren jeweiligen Gastländern Protestaktionen gegen den Krieg. Gleichzeitig wird versucht, abhängig von der politischen Verortung der jeweiligen Organisation, die Debatten zu grundsätzlichen Fragen alternativer bzw. linker Politik und Theorie weiter zu führen. In den letzten Wochen wurden z.B. die Auseinandersetzungen im Iran, in Israel und in Frankreich aufmerksam verfolgt.

Aus den damit verbundenen Debatten stechen ein Ereignis und eine Analyse hervor, die die Situation der russländischen Linken gut auf den Punkt zu bringen scheinen.

Anfang des Monats wurde Michail Lobanov, der im Zusammenhang mit den Duma-Wahlen 2021 und seinen folgenden Aktivitäten zur Stärkung zivilgesellschaftlichen Engagements bekannt geworden war, von der Moskauer Universität „auf starken Druck von außen hin“ gekündigt. Lobanov hatte auf der Liste der KPRF für die Duma kandidiert und nach Auszählung der im Wahllokal abgegebenen Stimmen seinen Wahlkreis gegen den Vertreter der Präsidentenpartei Einiges Russland mit solidem Vorsprung gewonnen. Dabei konnte er sich auf ein informelles Bündnis zwischen verschiedenen progressiven Strömungen stützen. Nach der Auszählung der per Internet abgegebenen Stimmen hatte dann plötzlich sein Kontrahent die Mehrheit. Dies war in mehreren Wahlkreisen passiert und ist bis heute ein Argument der Gegner*innen der Abstimmung per Internet. Lobanov setzte sein politisches Engagement fort. So forderte er dazu auf, die Arbeit der Abgeordneten öffentlich kritisch zu begleiten. Zuletzt hatte Lobanov sein Portal Vydvizhenie wiederbelebt, mit dessen Hilfe er und seine Mitstreiter*innen Bildungsmöglichkeiten für unabhängige Kandidat*innen zu lokalen Wahlen anbot. Damit geriet er immer stärker in Konflikt mit der Staatsmacht. Schließlich wurde er zum „Inoagent“, also unter ausländischem Einfluss stehend, erklärt, was wiederum den formalen Anlass zu seiner Entlassung lieferte. Die Überregionale Gewerkschaft der Hochschulangestellten charakterisierte die Entscheidung als Berufsverbot.

Jetzt kündigte er an, das Land zu verlassen. In diesem Zusammenhang beschrieb er aus seiner Sicht die Probleme, die vor den russländischen Linken stehen :

„Wir sind uns darüber im Klaren, dass bisher die erzwungene Emigration aus Russland leider noch nicht in der Lage ist, zwei wichtige politische Aufgaben zu lösen. Die erste ist die Formierung einer sich auf die Massen stützenden politischen Kraft, die auf die direkte Beteiligung an der Umgestaltung des russischen Regimes und die Unterstützung der sozialen Bewegungen im Lande ausgerichtet ist. Die zweite ist die Zusammenarbeit mit fortschrittlichen politischen Kräften in anderen Ländern, um Vorschläge und Garantien für die einfachen Menschen in Russland und der Ukraine zu erarbeiten. Wir müssen an etwas arbeiten, das es uns allen ermöglichen könnte, einen Ausweg aus der vom Kreml verursachten Katastrophe zu erkennen. Einen Ausweg, der für die Menschen in der Ukraine, in Russland, in Europa und für alle in diese Geschichte Verwickelten attraktiv ist.
Warum gab es in den letzten anderthalb Jahren in diesen beiden entscheidenden Richtungen kaum oder gar keine Fortschritte?
Der Misserfolg beruht weitgehend auf einem grundlegenden Problem. Die massenhaften Forderungen in unserer Gesellschaft nach sozialer Gerechtigkeit, nach Überwindung der eklatanten wirtschaftlichen und politischen Ungleichheit, sind in der Politik der russischen Opposition praktisch nicht repräsentiert. Der aktive Teil der Gesellschaft vertritt weitgehend radikaldemokratische Positionen. Daher ist kaum zu erwarten, dass sie sich zu irgendwelchen Strukturen um politische Figuren mit einer rechten Weltanschauung zusammenschließen werden. Zu sehr sind diese von marktwirtschaftlichen Hierarchien angetan und sie haben nicht allzu viel Vertrauen in die Selbstverwaltung von unten. Zudem werden fast überall auf der Welt die politischen Kräfte, die zumindest theoretisch in der Lage sind, eine internationale Agenda im Interesse aller voranzutreiben, durch ein breites Spektrum linker Parteien und Bewegungen vertreten. Und für sie ist es nicht leicht, mit Politikern zu sprechen, die ihnen in Bezug auf ihre Ansichten weit entfernt stehen.
Natürlich ist es unfair, in dieser Hinsicht Ansprüche an russische Politiker zu stellen. Jeder hat das Recht, die Ansichten zu haben und zu verteidigen, die er für richtig hält. Alle, die sich für die Beendigung des sinnlosen Blutbads einsetzen, verdienen Respekt.
Unter diesen Bedingungen fällt die Verantwortung für die Lösung der beiden oben skizzierten wichtigsten Aufgaben den derzeit wenigen linken russischen Politikern und Intellektuellen zu – offenbar sind nur sie in der Lage, einen qualitativen Durchbruch zu erzielen.
Unser Team hat eine Entscheidung getroffen: Ich werde eine längere Auslandsreise antreten, um zu versuchen, die Lösung dieser Aufgaben voranzubringen.
Ich danke allen, die sich Sorgen um meine Sicherheit gemacht haben – ich bin jetzt an einem Ort, auf den die russischen Sicherheitskräfte keinen Zugriff haben.
Dies ist der Beginn einer großen, wichtigen Phase, in der wir Formen der Beteiligung für Millionen von Russen finden müssen.“

Wie Lobanov von „außen“ und mit wem gemeinsam er Einfluss auf Prozesse in Russland nehmen will (zumal auf die Organisierung von Millionen), wissen wir nicht. Auch nicht, wen er im Ausland als nicht mit den russländischen oppositionellen Neoliberalen verbundene Kräfte sieht; und wie er sie ansprechen wird – oder schon angesprochen hat. Jedenfalls wurde die Nachricht über seine Entlassung über die Internet-Kanäle verschiedener politischer Ausrichtung verbreitet. Das lässt vermuten, dass er vielleicht als integrierender Faktor in der ansonsten stark fragmentierten russländischen Linken wirken kann.

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