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Zu Beginn des Ukraine-Krieges schien es, als ob eine starke Antikriegsbewegung entstehen könnte. Demonstrationen, Erklärungen und andere Formen des Widerstandes wurden von Linken und Neoliberalen gleichermaßen getragen. Die Idee gemeinsamen Handelns lag wenigstens zeitweise in der Luft. Derartige Versuche erschöpften sich freilich in den folgenden Monaten. Auch die Hoffnungen einiger Organisationen, dass es in Folge der Verschlechterung der Lebensbedingungen zu sozialen Protesten kommen würde, blieb bloße Hoffnung. Bisher ist es der Regierung gelungen, die soziale Stabilität trotz aller Turbulenzen durch Sanktionen, der Teilmobilmachung und wachsender Aufwendungen für den Krieg zu sichern. Seit April 2022 bedeutet Kampf gegen den Krieg zähe und gefährliche Kleinarbeit.

Ewgeniy Kasakow hat nun im Unrast-Verlag einen Band unter dem Titel „Spezialoperation und Frieden. Die russische Linke gegen den Krieg“ veröffentlicht. Er stellt einen Teil der Akteure des Widerstandes gegen den Krieg vor und macht eine Reihe von Quellen zu diesem Thema zugänglich.

In einführenden Texten und in Interviews werden Profil und Geschichte der betreffenden Organisationen bzw. Einzelpersonen dargestellt. Dabei greift der Autor tief in die Geschichte. Das ist auch notwendig, wenn man die vielfältigen Spaltungen der russländischen Linken und die Quellen ihrer Auffassungen verstehen will. Das Buch ist damit nicht nur ein Zeitdokument zum Widerstand gegen den Krieg, sondern auch eine wichtige Quelle zur Geschichte der Linken überhaupt. Mehr noch, es präsentiert eine politische Geschichte, die die Verbindungen zwischen der späten Sowjetunion und der heutigen Russischen Föderation (korrekt wäre Russländischen Föderation), zum Teil auch der heutigen Ukraine deutlich werden lässt. Daran ändert auch nichts, dass er die Analyse der in der Duma vertretenen Kommunistischen Partei (KPRF) auf die Kriegsgegner*innen in ihren Reihen beschränkt. Allerdings sollte Leser*innen immer in Rechnung stellen, dass Vielfalt nicht Masse bedeuten muss. Bei den betrachteten Organisationen handelt es sich um kleine, meist isolierte Gruppierungen. Ihre Aktivist*innen sahen und sehen sich oft vor die Frage gestellt, ob es nicht besser sei, das Land zu verlassen. Daher ist es folgerichtig, wenn er in diesem Zusammenhang auf die Rolle der „liberalen“ Opposition und ihre Aktivitäten im Ausland und die Rolle der Emigration generell eingeht.

Kasakow eröffnet seine Darlegungen mit der Beschreibung der Entwicklung von Sergei Udalzow, dem Chef der Linksfront und wichtigem Partner der KPRF. Er wandelte sich innerhalb weniger Stunden vom Kriegsgegner zum Kriegsbefürworter. Er verstieg sich Ende März 2022 zu der Prognose, dass Ende Dezember des gleichen Jahres zum 100. Jahrestag der Gründung der UdSSR ein neuer Unionsvertrag der ehemaligen Unionsrepubliken unterzeichnet werden würde. Der Artikel war auf der Seite der Linksfront mit einer Karte, die die Sowjetunion in den Grenzen von 1991 zeigt, dekoriert. Diese Entwicklung wie auch die Politik der KPRF gehören zu den Themen, die nach der Lektüre des Buches als weiterer Untersuchungen bedürftig erscheinen.

Vieles von dem, was über die russländische Linke geschrieben wird, scheint auf den ersten Blick fremd. Bei näherer Betrachtung sind die Unterschiede zur westlichen Linken nicht so groß, schon gar nicht mit Bezug auf die Spaltungen in der Kriegsfrage. Es ist zu hoffen, dass Leser*innen das Buch nicht vorrangig zur Hand nehmen, um den eigenen Standpunkt bestätigt zu sehen, sondern, um aus den dargestellten Widersprüchen neue Herangehensweisen an ein durchaus verwickeltes Problem ableiten zu können.

Kasakow, Ewgeniy (Hrsg.) (2022). Spezialoperation und Frieden: die russische Linke gegen den Krieg, Münster: Unrast

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