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Altes Denken? Neues Denken?

Paul Schäfer vertritt in einem von der Rosa Luxemburg Stiftung verbreiteten Artikel[1]  die Auffassung, dass ein Teil der Linken sich sträube, alte Denkgewohnheiten aufzugeben. Nun wird in diesem Artikel nicht deutlich gesagt, worin das Alte des von Schäfer kritisierten Ansatzes liegt, aber auch nicht, was ein neues Denken bedeuten könnte.

Wenigstens regt diese Problemstellung, sei sie nun treffend oder nicht, zu der Frage an, was ein neues Denken bedeuten könnte. Die Richtung seiner Polemik legt nahe, dass Schäfer unter neuem Denken die weitere Aufrüstung der Ukraine und einen Krieg bis zur Niederlage Russlands versteht, was er aber so weder sagt noch ausschließt. Auch wenn er Verständnis dafür zeigt, dass angesichts der Gefahr einer nicht mehr einzuholenden Eskalation des Krieges nach neuen Anläufen für Friedensgespräche gerufen wird, bleibt er den Leser*innen eine klare Aussage schuldig. Die Charakterisierung der Ukraine als Opfer und Russlands als Täter hilft da auch nicht weiter. Man kann durchaus dieser Charakteristik folgen und trotzdem für einen Waffenstillstand und den Stopp von Waffenlieferungen plädieren. Und das tun auch viele. Bedeutet das Denken in den Kategorien Opfer oder Täter, Krieg oder Frieden, Sieg oder Niederlage etwas Neues? Da das nicht Gegenstand des besagten Artikels ist, soll auf die Position von Paul Schäfer und die umfangreiche Darlegung von Entwicklungen der letzten Jahrzehnte sowie deren Interpretationen nicht weiter eingegangen werden. Da sein Artikel durchaus programmatischen Anspruch zu haben scheint, wäre eine solche nähere Betrachtung aber sicherlich angebracht.

Die wichtige Frage bleibt, was neues Denken bedeuten könnte.

Bei einer Diskussion dieser Phrase mit ChatGPT, verwies der Algorithmus zuerst auf die Esoterikbewegung der fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie habe, so das Ergebnis seiner ersten Recherche, erstmals die Menschheitsinteressen und das Denken vom Gesichtspunkt des Menschlichen her in den Mittelpunkt gestellt. Erst wenn man eine Weile mit der Maschine diskutiert hat, taucht das Neue Denken als politische Kategorie im Kontext der Systemauseinandersetzung auf. Dieser Aspekt ist heute weitgehend vergessen, sodass der erste Zugriff des Programms durchaus zu verstehen ist.

Diese Doktrin, die vor allem mit Michael Gorbatschow in Verbindung gebracht wird, stellte nun allerdings eine Abkehr von jeglicher Art binären Denkens dar. Vor knapp 40 Jahren erschien in der Sowjetunion ein Buch unter dem Titel „Neues Denken im Atomzeitalter“. Als politisches Handlungskonzept wurde das Neue Denken von Gorbatschow 1986 formuliert. Zentral dabei ist der Gedanke, dass Kriege unter den Bedingungen des späten 20. Jahrhunderts nicht mehr als zulässiges Instrument von Politik betrachtet werden dürften. Dafür müsste die Politik alle erdenklichen Bedingungen schaffen. Dazu gehörte auch der Ausschluss militärischer Interventionen zur Verteidigung des Sozialismus in der Tradition des proletarischen Internationalismus, heute würde man sie wertegeleitet nennen.

Damit unterschied sich dieses Konzept auch von dem der friedlichen Koexistenz, das den Krieg nicht konsequent ausschloss. Dieses Neue Denken hatte seinen Bezugspunkt nicht in den Koordinaten Sieg-Niederlage. Es ging davon aus, dass selbst ein Sieg für die überlegene Partei eine Katastrophe nach sich ziehen würde. Bezugspunkt des Neuen Denkens waren die „globalen Probleme“, die eine intensive Zusammenarbeit über die Systemgrenzen hinweg notwendig machten und die Gefahren, die sowohl mit der atomaren Hochrüstung als auch mit der Entwicklung anderer moderner Waffensysteme verbunden waren. In ihm flossen die Erfahrungen von Jahrzehnten der Blockkonfrontation und die Überlegungen bürgerlicher, sozialdemokratischer und kommunistischer Friedensforschung und -bewegung zusammen. Es hatte seine Vorläufer in den von Naturwissenschaftler*innen initiierten Bewegungen gegen die militärische Nutzung der Atomkraft und vielen weiteren Initiativen und Bewegungen zur Verhinderung von kriegerischen Konfrontationen. Man ging davon aus, dass jeder Krieg früher oder später in einen Atomkrieg münden könnte – sei es mit Absicht oder durch Zufall. Dessen Folgen wurden als nicht beherrschbar betrachtet. Zudem war klar, dass die Aufrüstung die Ressourcen für die Lösung globaler Probleme deutlich beschnitt.

In dem erwähnten Buch werden diese Erfahrungen zusammengefasst, indem ein neuer Ansatz von internationaler Politik gefordert wird:

„Die Strategie des Überlebens im Atomzeitalter erfordert eine neue Einsicht in die eigene Sicherheit und in die der anderen, folglich also auch ein neues Herangehen an die Probleme der internationalen Sicherheit.“ (Gromyko/Lomejko 1985, 186)

Mit dem Ende der Blockkonfrontation Anfang der 1990er schien sich das Konzept erledigt zu haben, da ja einer der beiden Kontrahenten verschwunden war. Dem hielt Gregor Putensen[2] 1996 entgegen:

„Das »Neue Denken« Gorbatschows bleibt trotz des staatssozialistischen Systemkollapses im Osten aktuell. Vielleicht ist es heute sogar aktueller denn je. Auch der entwickelte Kapitalismus kann nicht mehr lange so weiter machen wie bisher. Es sei denn bei Strafe seines unabwendbaren Unterganges. Allerdings dann auch für alle seine ideologischen und materiellen Kontrahenten im Lager der ausgebeuteten »Verdammten dieser (letztlich unteilbaren) Erde«. – Für eine globale Umkehr ist es daher mehr als höchste Zeit!“ (Putensen 1996, 26)

Zu fast der gleichen Zeit hieß es im 1997 erschienenen Kommentar zum Programm der PDS:

„Gefährlich ist eine quer zu allen politischen Provenienzen und Ideologien verlaufende Veränderung in der Bewertung militärischer Mittel der Konfliktbearbeitung. Militärische Interventionen Dritter gelten verbreitet als tauglicher Weg der Lösung aufgebrochener Probleme und sogar als moralische Pflicht… Herrschende Politik hat begonnen, eine Relegitimierung des Krieges als Mittel der Politik durchzusetzen.“ usw. (Brie et al. 1997, 187ff.)

Betrachtet man die Kriege der letzten 30 Jahre, so bestätigen sich die Befürchtungen der Exponenten des Neuen Denkens. Die konventionellen Kriege der letzten Jahrzehnte haben kein Problem gelöst und den betroffenen Ländern andauernde Instabilität und Krisen gebracht. Es bestätigte sich die Vermutung, das Kriegsfolgen heute nicht mehr begrenzbar sind.

Die seit 1990 betriebene „Relegitimierung des Krieges als Mittel der Politik“ wird heute auch von wesentlichen Teilen der Linken mitgetragen. Dabei geht es noch nicht einmal um die Frage der Haltung zu Waffenlieferungen. Es geht darum, dass der Krieg als alleiniges Mittel der Lösung eines Widerspruches betrachtet wird, und die Forderung nach diplomatischen Lösungen unbesehen als Unterstützung Russlands diskreditiert wird. Weder im Handeln noch in den Erklärungen der beiden kriegführenden Seiten ist unter den oben diskutierten Gesichtspunkten etwas Neues zu erkennen. Konzeptionell bewegt sich die Politik beider Seiten auf (oder selbst unter) dem Niveau der 1970er Jahre. Lediglich der von China vorgelegte Plan zur Regulierung des Konfliktes zeigt Anknüpfungspunkte zum Neuen Denken der 1980er. Aber dieser Vorstoß wurde ja bereits abgelehnt.

Es bleibt also die Frage, welches Denken den konzeptionellen Ansatz für eine nachhaltige Friedensordnung liefern kann.

Zentral dürften dabei Fragen sein, die sich kaum von denen in den 1980er Jahren unterscheiden:

Hält man die Gefahr eines mit allen Mitteln (nicht nur mit Atomwaffen) geführten Krieges für illusorisch (und einige tun das) oder dessen Folgen für beherrschbar (dazu sagt kaum jemand etwas) – oder lehnt man den Krieg als Mittel der Konfliktlösung grundsätzlich ab. Oder hält man schon diese Fragen für nicht mehr zeitgemäß? Welche wäre dann aber die entscheidende Frage?

Dabei sind alle der möglichen Positionen begründungsbedürftig – und diese Begründungen müssen jenseits von Zuschreibungen diskutierbar sein. Das ist z.Zt. nicht der Fall, und das war auch nie der Fall – gemeint ist Diskussion, nicht der derzeit übliche Austausch von Statements, Unterstellungen oder Beschimpfungen.

Quellen

Brie, André/Brie, Michael/Dellheim, Judith/Falkner, Thomas/et al. (1997). Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus: ein Kommentar Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V (Hrsg.):, Berlin: Dietz Verlag

Gromyko, Anatoli/Lomejko, Vladimir B. (1985). Neues Denken im Atomzeitalter, Leipzig, Jena, Berlin: Urania-Verlag

Putensen, Gregor (1996). Neues Denken ad acta? Die Reflexion der Perestrojka im Osten Deutschlands, in: Utopie kreativ, Vol. 7(67), 17–26 / www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/67/67Putensen.pdf /

Fußnoten

[1] Inhaltlich entspricht dieser einem in den Blättern für deutsche und internationale Politik vom Februar 2023 www.blaetter.de/ausgabe/2023/februar/ein-jahr-russischer-angriffskrieg-das-elend-der-linken-legenden

[2] Nordeuropawissenschaftler und 1994-1998 Mitglied des Landtages Mecklenburg-Vorpommern für die PDS

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