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Die linke Zeitschrift Alternativy hat in ihrer Ausgabe 2/2023 einen Artikel von A. Buzgalin, K.A. Chubiev und D.B. Epstejn veröffentlicht, in denen aus linker Sicht ein Minimalprogramm der wirtschaftlichen Umgestaltung des Landes vorgeschlagen wird. Buzgalin und Epstejn haben oft an Diskussionen im Rahmen von Projekten der RLS Moskau teilgenommen. Die Autoren gelten als Vertreter der postsowjetischen Schule des Marxismus.

Die Autoren gehen von einer Analyse der Ursachen für den Zustand der russländischen Wirtschaft aus. Sie charakterisieren das ökonomische System Russlands für die Zeit 1991 bis 2021 als oligarchisch-bürokratischen Kapitalismus semiperipheren Typs. Es sei bestimmt durch die Dominanz des Großkapitals, das mit dem Staat verschmolzen ist. Diese Verbindung schließt Beziehungen nichtökonomischer Abhängigkeit, die man auch als Vasallentum bezeichnen könnte, ein. In einem solchen System erweist sich die konkrete Eigentumsform als sekundär. Sie habe wenig Einfluss auf das Verhalten des Kapitals. Das Privatkapital sei in ökonomischer Hinsicht der Staatsbürokratie unterworfen und kann in umfangreichem Maße die staatlichen Ressourcen für die Erhöhung ihrer Profite nutzen, die nur in unbedeutendem Maße in innovative produktive Projekte investiert werden. Ein solches System der Beziehungen von Markt und Eigentum bringt eine Lohnarbeiter*innenschaft hervor, die paternalistisch orientiert und wenig organisiert ist, weiter soziale Ungerechtigkeit und einen vorwiegend extensiven Typ der Reproduktion. Diese Beziehungen bilden auch das Fundament des ökonomischen Systems das sich in den letzten Jahrzehnten in Russland herausgebildet hat.

Die Ursachen für die Entstehung und die Reproduktion dieses Systems sehen die Autoren in folgenden Punkten:

Erstens, in der Trägheit des institutionellen Systems des Feudalismus, der in Russland über Jahrhunderte herrschte;

zweitens, im technologisch-strukturellen, administrativ-leitungsmäßigen und sozialkulturellen Erbe der UdSSR;

drittens, in der Weichenstellung Anfang der 1990 er Jahre, die durch die Anhänger einer radikalen marktkapitalistischen Transformation vorgenommen wurden.

Drei Etappe wirtschaftlicher Entwicklung

In der ersten Etappe dieses Prozesses zerfielen alte Strukturen beziehungsweise Institutionen und die neuentstehenden waren von geringer Qualität.

In der zweiten und dritten Etappe, die durch die Wiederherstellung ökonomischen Wachstums in den Nullerjahren sowie die Krise und folgende Stagnation in den 2010er Jahren charakterisiert waren, wurde dieses System so transformiert, dass auf der einen Seite das Eigentumsrecht, die Verträge, die Freiheit und das Leben der Unternehmer durch Entscheidungen der Staatsorgane abgesichert wurde, auf der anderen eine neoliberale Sozial- und Geldpolitik umgesetzt wurde. Ein solches System besitzt aus der Sicht der Autoren eine kurzfristige Stabilität und kann unter den Bedingungen günstiger äußerer Konjunkturen extensives Wachstum sichern, führt aber bei ungünstigen Bedingungen zu Stagnation. Unter Bedingungen radikaler geopolitischer Veränderungen ist ein solches System nicht in der Lage, eine intensiv erweiterte Reproduktion oder eine Entwicklung, die auf die Realisierung allgemeingesellschaftlicher Prioritäten gerichtet ist, zu sichern.

Dilemmata

Sie beschreiben folgendes Dilemma:  die niedrige Qualität der Institute bremst das ökonomische Wachstum und behindert den Übergang auf andere Entwicklungsrichtungen und die Stagnation ihrerseits reproduziert die niedrige Qualität der Institute. Die wenig effektiven Institute zur Beförderung der Entwicklung der Wirtschaft, die monetaristische Politik und die Abflüsse der Gewinne ins Ausland wirken im Ergebnis blockierend auf jede Entwicklung. Folge war das allgemein bekannte Auseinanderlaufen der Wachstumsraten in Russland und der Welt. Um diesen Trend umzukehren wäre es nötig, die Investitionen zu verdoppeln, was aber nicht nur in der Wirtschaftspolitik, sondern auch in den Produktionsverhältnissen und in dem institutionellen System Veränderungen erfordert. Insgesamt wird seit 20 Jahren in Russland kein wesentliches Wachstum der Investitionsaktivitäten mehr verzeichnet. Während das Land 2016 bezüglich der Investitionstätigkeit den 43. Platz einnahmen, ist es bis 2021 auf den 45. Platz zurückgefallen.

Diese ökonomischen Probleme wie auch die ebenfalls bekannten sozialen Probleme könnten allerdings nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern als systemisch zusammenhängend. Die strategische Aufgabe Russlands bestehe schon lange darin, eine qualitative Veränderung der Zweig- und regionalen Struktur der Wirtschaft zu erreichen. Das hier nur kurz charakterisierte System eines oligarchisch-bürokratischen Kapitalismus, belastet mit spätfeudalen Resten, kann die Aufgabe der radikalen Erhöhung des Anteils und der Qualität der Investitionen, der Lebensqualität usw. nicht lösen.

Nicht ganz nachvollziehbar ist die Aussage der Autoren, dass heute unter neuen Bedingungen Russland die Chance hat, mit Unterstützung der sozialen und politischen Kräfte in der Welt, die einen Weg zur Realisierung sozialer, humanitärer, ökologischer Prioritäten Sicherheit und Frieden suchen, einer der Führer der Realisierung eines sowohl zum Neoliberalismus als auch Konservatismus alternativen Fortschritts zu werden. Allerdings sagen sie auch, dass die Chancen dafür nicht sehr hoch sind.

Es geht um die „Resozialisierung“ der Wirtschaft

Ausgehend von dieser Analyse meinen die Autoren, dass es jetzt nicht um radikale Veränderungen des marktkapitalistischen Systems gehe. Es ginge um eine Strategie tiefgehender ökologisch, sozial und kulturell orientierter Reformen, die auf eine systemische Transformation der sozialökonomischen Beziehungen orientiert sind, nicht einfach um bestimmte Korrekturen in der Wirtschaftspolitik.

An erster Stelle sehen sie die Transformation der Marktbeziehungen und der staatlichen Regulierung.

Dazu gehören

  • die gesetzliche Stärkung der Ziele des strategischen Plans in Übereinstimmung mit der Verantwortlichkeit staatlicher Funktionäre für seine Realisierung;
  • die Schaffung von Instituten, die die Spielregeln in einem ausgewählten Bereich der Regulierung des Privatsektors festlegen und die Orientierung dieses Sektors auf die Realisierung strategischer Ziele sicherstellen;
  • den Aufbau eines Systems verbindlicher Aufgaben für Unternehmen des staatlichen Sektors;
  • die Festlegung eines Plans staatlicher Investitionen und staatlicher Aufkäufe;
  • die Schaffung eines Systems staatlicher Regulierung der Preisbildung, das die Mechanismen des Marktes ergänzt und korrigiert;
  • die Beauftragung eines der Staatsorgane mit der Funktion der Ausarbeitung des Plans und der Verantwortung für seine Realisierung.

Die Eigentumsfrage und Arbeitsbeziehungen

Die Reform des Marktes und der Regulierung setzt nach Darstellung der Autoren die Veränderung des grundlegenden Verhältnisses der Ökonomie Russlands voraus -die Transformation der Eigentumsbeziehungen und des Eigentumsrechtes. Der Entwicklung der Regulierung folge die Sozialisierung des Eigentums. So soll das Eigentumsrecht transparent und gesichert sein. Zu sichern ist nicht nur das private, sondern auch das gesellschaftliche Eigentum, etwa vor Privatisierung. Es sollte die soziale Verantwortung des Unternehmertums radikal erhöht werden, die Beschäftigten sollten das Recht auf Anteile am Eigentum ihres Betriebes haben, wie auch das Recht der Teilhabe an Leitung und Kontrolle, oder das Recht auf die Schaffung unabhängiger freier Gewerkschaften. Dazu gehöre auch die Entwicklung staatlicher oder anderer Formen gesellschaftlichen Eigentums mit demokratischem Inhalt und die Erweiterung des Feldes, in dem dieses besteht.

Auf dieser Grundlage müsse das System der Arbeitsbeziehungen und der Beschäftigung, wie auch die Verteilung der Ressourcen, in erster Linie der Einkommen, entwickelt werden. Dazu gehöre auch eine progressive Einkommensteuer. Auf die Seite von Reformen im Kredit und Geld Sektor wollen die Autoren nicht näher eingehen, da dies von anderen bereits ausreichend getan worden sei.

An internationalen Beispielen orientieren

Die Autoren verweisen darauf, dass all diese Maßnahmen für andere Länder in der Welt normal sind, vor allem dort, wo links-zentristische politische Kräfte herrschen. Besonderes Interesse zeigen sie für die Erfahrungen Chinas und würdigen die Errungenschaften der Modernisierung des Landes. Besondere Aufmerksamkeit lenken sie darauf, dass in Skandinavien, in Österreich und anderen Ländern ähnliche Formen der Regulierung wie in China angewandt würden, obwohl dort ganz andere Verhältnisse herrschen.

Sie sind sich dessen bewusst, dass die hier nur kurz charakterisierten Reformen durchaus das Privateigentum, den Markt, soziale Ungleichheit einschließen. Die Reformvorschläge seien auf die „Resozialisierung der russländischen Ökonomie“ orientiert. Sie seien allerdings bei Weitem nicht so radikal wie die Reformen der 90er Jahre, die zur Zerstörung der Planwirtschaft und zu langfristiger Stagnation führten.

Abschließend betonen sie noch einmal, dass sie keine Revolution, sondern eine Reform vorschlagen. Sie verweisen auf die Literatur, die einen großen Kreis von Erfahrungen in der Welt verallgemeinert und wo gezeigt wird, auf welche Weise in der Praxis strategische Planung, aktive Industriepolitik, Sozialisierung des Eigentums. Entbürokratisierung der Leitung, Maßnahmen zur Verminderung sozialer Ungleichheit usw. realisiert werden könnten. Das sei auch die Antwort auf die Frage, ob eine praktische Realisierung dieser Schritte überhaupt möglich ist.

05.06.2023

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