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Natürlich bleibt vieles offen und unsicher – niemand in der Kommentator*innenzunft konnte und kann sich bisher auf verlässliche Quellen zu den Vorgängen zwischen dem 23. und 25. Juni 2023 in Russland stützen. Alle Beiträge beziehen sich letztlich auf Analysen der Darstellungen in den sozialen Netzwerken und in den Medien. Selbst wenn man die langfristigen Tendenzen in Rechnung stellt, sind zu diesem Zeitpunkt nur Momentaufnahmen möglich – wie die folgende, die am 25. Juni geschrieben und am 26. Juni leicht überarbeitet wurde. Fest dürfte stehen, dass die russländische Staatlichkeit mit der Revolte Prigozhins erschüttert wurde – gesprengt wurde sie nicht.

Am Ende erscheint alles als eine Familienfehde. Der ungehorsame Sohn wird aus dem Haus gejagt, der verärgerte Papa wahrt die Form und gibt ihm sein Wort, dass er unbeschadet verschwinden kann. Das Gefolge des gefallenen Sohnes wird in die Dienste des Hausherrn übernommen. Das sonstige Hauspersonal sieht dem mit einer gewissen Fassungslosigkeit zu, lästert hinter dem Rücken des Hausherrn oder bedauert oder ist enttäuscht, dass die Fehde sie nicht auf einen höheren Rang im Haushalt beförderte. Freilich ist Politik dramatischer und tödlicher. Aufschlussreich sind die Erwartungen, die bezüglich der Reaktion der Regierung auf den Marsch auf Moskau und die zum Charakter der Revolte gemacht wurden. Auf dem telegram-Kanal Nevojna (Keinkrieg) wurden die Söldnertruppen aufgefordert, die Macht zu ergreifen, da man mit ihnen besser verhandeln könne, als mit der gegenwärtigen Führung. Chodokovski sah eine revolutionäre Situation, die man verpasst habe.  Nur eine Revolution wohin und durch wen? Die Option des Bürgerkrieges lag in der Luft, nicht die einer Revolution.

Es wurde immer wieder die Frage gestellt, warum die Armee nicht sofort eingegriffen habe. Was sollte sie denn tun? Rostov am Don (eine Stadt mit über 1 Million Einwohner*innen) bombardieren? Nun sind Kriegszeiten Zeiten der Verrohung. Die Forderungen und impliziten Hoffnungen auf eine militärische Lösung zeugen schon von einer schrecklichen Gewöhnung.

Im Nachhinein wird klar, dass die aufgerissenen Straßen, die den Vormarsch der Wagner-Söldner behinderten, Zeit für das Arbeiten der Netzwerke, die in diesen Coup verwickelt waren, schaffen sollten. Übrigens waren die Löcher in den Straßen kein echtes Hindernis für eine Kolonne kampferfahrener Militärs. Prigozhin selbst gibt uns die Formel zum Verständnis des Ganzen. In seiner Erklärung beim Abzug aus Rostov sagte er, dass bisher (200 km vor Moskau) kein Tropfen Blut vergossen worden sei (was nicht stimmt: ein nach Worten Prigozhins, „Idiot, der auf alles schießt, was fliegt“, hatte eine IL-22 mit 10 Insassen abgeschossen; außerdem wird von mehreren abgeschossenen Armee-Hubschraubern berichtet) , ab hier aber viel Blut fließen würde. Lukaschenko scheint ihm im Auftrage Putins eine klare Botschaft gesandt zu haben – hinreichend weit von Moskau entfernt würden seine Kolonnen ausgelöscht werden. Kolonnen auf dem Marsch sind so verwundbar, dass dies wohl auch passiert wäre. Es bliebe dann für die Reste der Truppen nur der Partisanenkrieg, aber um den dürfte es Prigozhin und seinen Offizieren nicht gegangen sein. Als militärische Formation waren sie nur von der Armee zu bekämpfen, als Untergrundkämpfer wären sie Ziel von Polizei und Sicherheitstruppen. Im Nachhinein wird auch bekannt, dass nicht alle Offiziere den „Marsch auf Moskau“ unterstützten. Schließlich sollen es 5 Tsd. Soldaten gewesen sein, die sich in drei Kolonnen auf den Weg machten. Der Personalbestand der Wagner-Truppen wird mit 25.000 angegeben.

Die Presse berichtet später über ein Gespräch zwischen Putin und Lukaschenko in warmherziger Atmosphäre. Lukaschenko habe sich in diesem Gespräch als Vermittler angeboten, da er Prigozhin mehr als 20 Jahre kenne. Die eindeutige Position Putins am Samstagmorgen und sein scheinbar spätes öffentliches Reagieren, die Verurteilung Prigozhins als Verräter, dürfte Ergebnis erster erfolgloser Versuche der Vermittlung gewesen sein. Putin bemühte hier, wie schon fast zu erwarten, das Bild vom Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden Truppen und die Fiktion des gestohlenen Sieges im Ersten Weltkrieg durch den Ausbruch der Februarrevolution 1917. Man kann das Nichtreagieren der Armee unter diesem Gesichtspunkt auch als kluge Entscheidung interpretieren. Es ging wahrscheinlich tatsächlich um die Machtposition in den Eliten und die Frage der Lösung der festgefahrenen Situation im Ukrainekonflikt. Wie ernst Prigozhins Friedensforderung zu nehmen ist, sei dahingestellt, sie mag auch nur ein Baustein im Konflikt mit der Armeeführung gewesen sein. Und ein derartiger Elitenkonflikt ist heute nicht mehr in Feldschlachten zu lösen, wenigstens nicht, ohne das Ganze in Frage zu stellen. Das dürfte allen Beteiligten klar gewesen sein.

Die Macht wurde in Frage gestellt – aber auch mehr?

Viel wichtiger aber ist, dass Prigozhin aus der Mitte der Macht den Kurs in Frage gestellt hat. Auch wenn er in den Eliten keine Freunde hat, wurde das sowohl von Kriegsanhängern, die sich einen radikaleren Kurs wünschen, als auch von Kriegsgegnern so verstanden. Allerdings hat die Sache noch eine Seite, die den Kurs des Putin-Kreises stützen dürfte: die schnelle, vielleicht vorschnelle Begeisterung der ukrainischen Führung unter der Überschrift „alles was Russland schwächt, ist gut“. Damit ist auch eine weitere Argumentationskette zur Verschärfung der Repression und die Gleichsetzung jeder Kriegsgegnerschaft mit dem Bild des Verräters, ja des Staatsstreiches gegeben.

Es ist zu bezweifeln, dass dieser Vorgang Russland geschwächt hat, auf jeden Fall nicht militärisch. Dafür gibt es keine Indikatoren. Die russländischen Truppen haben sich auf die Verteidigung ihrer Stellungen in der Ukraine konzentriert und lassen die Gegner an dieser Linie ausbluten. Was danach kommt, ist offen. Die Ukraine kann in den Grenzregionen Nadelstiche setzen, ohne die Offensive einzustellen kann aber an keiner Stelle wirkungsvoll angreifen. Eine Umgruppierung der Armee, etwa für ein Eindringen in die angrenzenden Regionen Russlands, würde den russländischen Truppen an der bisherigen Frontlinie den Raum für eine eigene Offensive und den Anlass für eine generelle Mobilmachung geben.

Interessant ist die Reaktion in Staaten wie Kasachstan, wo derartige Entwicklungen aufmerksam verfolgt werden. Kasachstan hat eine sehr lange gemeinsame Grenze mit Russland (es soll die längste gemeinsame Grenze zwischen zwei Staaten sein), so dass abgesehen von Fragen der wirtschaftlichen und politischen Integration in der Region das Land ein vitales Sicherheitsinteresse an Stabilität in Russlands hat. Für die Integrationsbemühungen Russlands könnte die Juni-Affäre zu einem Dämpfer werden.

Der Vorgang dürfte innenpolitisch ein Moment der weiteren Polarisierung sein. Ob das System nicht weiter lebensfähig ist, ist keinesfalls ausgemacht. Ebenfalls nicht, dass die Position des Präsidenten geschwächt sei. Der andauernde Kriegszustand, wie immer man ihn nennen mag, demoralisiert aber. Inzwischen sollen 20 Prozent der Russländer*innen in ihren Familien bereits Gefallene haben. Ob das durch immer weiter ausgebaute soziale Leistungen und andere Vergünstigungen für Angehörige von Gefallenen und Demobilisierte zu kompensieren ist, ist schwer zu sagen. Zwischen wachsenden Verlusten und Kriegsgegnerschaft besteht zudem keine Kausalität, es kann auch radikale Tendenzen stärken.

Die Frage nach der Zukunft

Diese offene Zuspitzung der Polarisierung stellt aber mit neuer Schärfe auch die Frage nach der Zukunft der russländischen Staatlichkeit „nach“ Putin. Der gesamte Vorgang macht deutlich, wie wichtig die persönlichen Netzwerke zu sein scheinen. Die Krise wurde nicht aus der Staatlichkeit als solcher, sondern aus diesen Netzwerken (der unter Putin neu formierten Oligarchie ohne Oligarchen) heraus gelöst – hatte dort aber auch ihren Ausgangspunkt. Die strategische Ausrichtung auf die Erneuerung der Eliten, wie sie jetzt im Vorfeld der Wahlen in Regionen zum zur Duma betrieben wird, beantwortet nicht die Frage nach ihrem Charakter. Da eine bürgerliche Gesellschaft im klassischen Sinne nicht existiert, dürfte es um die Entstehung neuer Netzwerke bzw. eine „neue Oligarchie“ gehen.

In der Juni-Affäre werden so keine neuen Ansätze für die Lösung der vielfältigen Krisen, in die Russland verstrickt ist, sichtbar, lediglich Momente ihrer Verschärfung. Prigozhin war einen Moment handlungsfähig und versuchte eine Lösung im System. Sein Versuch im Mai d.J., im Rahmen von Gerechtes Russland einen politischen Arm zu gewinnen, könnte damit im Zusammenhang stehen, wobei unklar ist, wie ernsthaft dieser Versuch war. Vor der Affäre hatte Navalny (bzw. sein Kreis) zu einer Kampagne gegen den Krieg und das politische System im Vorfeld der Wahlen aufgerufen. Auch seine Lösung verlässt den Rahmen des Systems lediglich auf der Ebene der Eliten und Teilen des politischen Systems (bei aller Unschärfe). Aber er erfasst nur ein zwar artikulationsfähiges, aber marginales Publikum in Russland, mehr wahrscheinlich in der Emigration. Arbeitet die Zeit für oder gegen ihn? Die KPRF, die den Krieg in einen sozialistischen Umsturz münden lassen will, stellte sich demonstrativ hinter den Präsidenten. Die Linksfront, Verbündeter der KPRF, fordert im Interesse des Sieges im Krieg eine Vereinigung der linkspatriotischen Kräfte und die Bildung einer Koalitionsregierung unter deren Beteiligung. Gerechtes Russland wird bei den Präsidentschaftswahlen Putin unterstützen. Der Rest der linken Opposition ist zersplittert, träumt von sozialdemokratischen Reformen oder anderen Lösungen, für die im Moment keine Basis besteht.

Boris Kagarlitzky bringt nun eine weitere Variante ins Spiel – dass ein Machtvakuum entstanden sei. Möglicherweise liege die Macht schon in ganz anderen Händen, z.B. bei Kräften aus dem Umfeld des Sicherheitsrates, nicht mehr bei Putin oder der Regierung. Dass die Stellung Putins erschüttert sei, vermerkt auch die liberale Analytikerin Tatjana Stanovaja. Sie betont aber auch, dass Putin sich um sein Image nie gekümmert habe. Letztlich habe er die Krise lösen können – durch Integration der Wagner-Söldner und die Vertreibung Prigozhins. Ein Blutvergießen vor den Toren Moskaus wäre schlimmer gewesen. Offen bleibt bei beiden Interpretationen, wie sich die Dinge nun entwickeln.

In einem auf AltLeft schon vor einiger Zeit veröffentlichten Artikel von Liza Kostikova heißt es, dass die größte Gefahr für Putin der enttäuschte Traditionalismus sei. Die Ereignisse scheinen das zu bestätigen.

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