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Equal Care [Rezension]

Von «Pflege-Ketten» (care chains) sprechen Gesellschaftswissenschaftler*innen und verweisen darauf, dass auch Menschen in Pflegeberufen oder als Sorgende im Privaten Unterstützung, mitunter Fürsorge brauchen. Das schafft Abhängigkeiten in einem Teil unseres Lebens, der uns in jedem Alter begleitet, ganz gleich wo wir sozial stehen: Bei Geburt und Älterwerden, Krankheit, Leben mit Kindern, an allen Ecken des Alltags, ob Haushalt oder «Arbeitsplatz». Wie darin Geben und Nehmen verteilt sind und wie sich das fair oder für alle nachhaltig gestalten lassen kann, beschreibt das Buch «Equal Care» von Almut Schnerring und Sascha Verlan. Ihre Beobachtungen und Vorschläge dürften akut auf ein geschärftes Bewusstsein für Wert und Wertschätzung von «Kümmerarbeit» stoßen. Auch wenn das Thema bereits vor SARS-CoV-2 als «dringend» auf der Agenda von Umverteilungs-Konzepten stand, treten traditionelle Schieflagen und neue Ungleichheiten jetzt noch einmal deutlicher hervor.

Denn Care- oder Fürsorge-Arbeit ist das Zentrum der Gesellschaft und die Basis jeder Ökonomie. Sie ist oft unsichtbar, in der Regel kaum durch Technik ersetz- oder rationalisierbar, und sie wird zu 80 Prozent von Frauen erledigt. Sie führt, dem Gender Care Gap sei «Dank», zu einer geringeren Rente derjenigen, die sie ausführen. Schließlich erfährt sie allgemein, egal ob sie bezahlt wird oder nicht, wenig Wertschätzung. Ein gutes Drittel aller berufstätigen Frauen ist im Care-Sektor tätig. Die Arbeitsbedingungen sind dort oft schlecht und lassen wenig Selbst-Sorge zu. Diese geschlechtsspezifische Zuweisung – es gibt z.B. 2,6 Millionen Alleinerziehende, 2,2 Millionen davon sind Frauen – hat auch viel mit dementsprechend hinleitender Erziehung zu tun, die bereits bei Kleinkindern einsetzt. Der «Care Gap beginnt im Kinderzimmer», so die Autor*innen in ihrem zweiten Kapitel.

So lassen sich die mit etlichen Zahlen unterfütterten Hauptthemen des Buches «Equal Care» zusammenfassen. Verlan und Schnerring, die 2014 das immens erfolgreiche Buch «Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischees» verfasst haben, wollen mehr Wertschätzung für Care. Sie streiten für eine andere Erziehung und eine fürsorglichere Arbeitswelt. Ihre zentrale These lautet, dass es Emanzipation nur geben wird und kann, wenn die Sorgearbeit gesellschaftlich und privat mehr und neu zwischen Frauen und Männern umverteilt wird. Dazu gehört auch, die Spielregeln und Praxis bewusster oder unbewusster geschlechtlicher Normierung durch und in Erziehung unter die Lupe zu nehmen, Gendermarketing und die große Bedeutung von Sprache zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen. Sprache bestimmt und strukturiert das Denken, sie lenkt die Assoziationen und Gefühle.

Ein Denken in Care-Belangen und -Anliegen führt auch zu einem anderen, erweiterten Begriff von «Politik», der die bisherige Aufteilung von «privat» und «öffentlich» anders denkt. Verlan und Schnerring nennen ihre Utopie oder ihr Leitbild eine «fürsorgliche Demokratie».

Ihr Buch ist wirklich sehr anschaulich und verständlich geschrieben, und das ist, jenseits der Behandlung des Themas an sich, seine große Stärke. Schwächen des Buches zeigen sich vor allem bei Fragen der Machtverhältnisse: Wer profitiert von der Situation? Warum ist sie überhaupt so, wie es die beiden Autor*innen ja gut und zutreffend beschreiben? Am Beispiel der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und anderer Entwicklungen wird deutlich, dass der Staat durchaus kein neutraler Akteur ist. Ist der von ihm aufrechterhaltene ökonomische Gender Gap doch durchaus klar als eine Grundlage des zeitgenössischen kapitalistischen Wirtschaftssystems zu identifizieren. Hier fehlt Verlan und Schnerring für einen radikalen Blick ein wenig der Biss, mit dem sie an anderer Stelle Machtverhältnisse etwa in der Ungleichverteilung von Sorge-Aufgaben und -Arbeit zwischen den Geschlechtern beschreiben. Ihr Resümee bleibt am Ende vor allem ein Praktisches, für Politik und Praxis aller Beteiligten, wenn sie im letzten Kapitel zusammengefasst umreißen, was «Equal Care» bedeuten würde, was noch alles zu tun ist und wie viel noch geändert werden muss. Insgesamt ein wichtiges Buch zu einem umso wichtigeren Thema.

Sascha Verlan / Almut Schnerring: Equal Care – Über Fürsorge und Gesellschaft, Verbrecher Verlag, Berlin 2020, 160 Seiten, 16 EUR.

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