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lingner-volksfrontdemonstration Am Sonnabend, dem 7. November 2009, fand an der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin eine erste Veranstaltung im Rahmen der neugestarteten „Initiative für neue Solidarität und eine gerechte Gesellschaft“ statt. In seinen Begrüßungsworten sagte der Projektleiter, Lutz Brangsch, dass es sich hierbei um eine Auftaktveranstaltung für einen öffentlichen Diskurs handele, der sich in den kommenden Jahren unter sehr unterschiedlichen Aspekten und in diversen Formen – Workshops, Seminaren, Konferenzen, Publikationen – mit dem Thema Solidarität im 21. Jahrhundert befassen werde. Wenngleich sich zunächst einmal ein relativ kleiner, aber doch illustrer Kreis von TeilnehmerInnen zusammengefunden hatte, so ist doch die Intention der Veranstalter, dass sich dieser Kreis im Laufe der Arbeit schrittweise erweitern und zunehmend Einfluss auf die öffentliche Debatte über Solidarität in der Gesellschaft von heute und morgen gewinnen wird.
Dass das Thema im 20. Jahrhundert auf eine lange und breitgefächerte Geschichte zurückverweisen kann, das bewiesen zum einen vielfältige Plakate, die hier ausgestellt worden waren: Da gab es Plakate, die zur Solidarität mit Angela Davis, mit Louis Corvalan, mit Angola aufriefen, also aus dem DDR-Kontext der 1970er Jahre stammten, aber auch aktuellere von der Volkssolidarität und andere, etwa vom BüSo, was auf die Verwendungsweise des Begriffs in sehr heterogenen Kontexten und durch unterschiedliche, z.T. politisch konträre soziale Gruppen verweist. Noch weiter zurück in die Geschichte des solidarischen Denkens und Handelns griffen die Veranstalter, als sie zum anderen Ausschnitte aus dem Film „Kuhle Wampe“ von 1932 zeigten, aus dem das berühmte „Solidaritätslied“ von Bertolt Brecht und Hanns Eisler stammt und der soziale Praxen von Solidarität im linken proletarischen Jugendmilieu zu Beginn der 1930er Jahre bildlich vor Augen führt.

Ein Begriff und seine Geschichte

Dass jedoch der Beginn des politisch-philosophischen Diskurses über die Solidarität noch ein Jahrhundert früher, nämlich im beginnenden 19. Jahrhundert zu verorten ist, und zwar auch nicht unbedingt in Deutschland, sondern eher in Frankreich, darauf machte Effi Böhlke in ihrem Kurzreferat zu wichtigen Etappen des französischen Solidaritätsdiskurses im 19. und 20. Jahrhundert aufmerksam. Mit ihren Ausführungen stellte sie erste Ergebnisse einer Studie zur Diskussion, die sie seit Frühsommer dieses Jahres im Rahmen des Projekts durchführt.
Ihr zufolge ist Solidarität ein Begriff, der auf das Zusammengehörigkeitsgefühl, den Gemeinsinn, die wechselseitige Verantwortung der Menschen füreinander abhebt; er werde häufig als Gegensatz zu solchen Begriffen und Erscheinungen wie Egoismus, extremer bzw. überzogener Individualismus und Konkurrenz verwendet. Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende Solidaritätsdiskurs weise Minima und Maxima auf. Offensichtlich werde er gerade dann besonders intensiv geführt, wenn sich die Gesellschaft in einer akuten Krisensituation befindet, wie dies auch derzeit der Fall ist. Schließlich könne nachverfolgt werden, wie sich der Begriff der Solidarität, der zunächst auch stark aus dem christlich-religiösen Kontext von Nächstenliebe und Barmherzigkeit herkomme (neben seiner Verwurzelung im juristischen und philosophischen Kontext des 18. Jahrhunderts), sukzessive säkularisiere und damit zugleich Züge von Einseitigkeit zwischen Gebenden und Nehmenden abstreife und mehr und mehr auf die Wechselseitigkeit und damit Gleichberechtigung der solidarisch miteinander verbundenen Gesellschaftsmitglieder abhebe. Während sie auf solche Autoren wie Saint-Simon, Fourier und deren Schüler Leroux und Renaud, die ihre diesbezüglich relevanten Schriften im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts verfassten, einging, sodann auf Durkheim und Bourgeois, welche am Ende des 19./zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv über Solidarität reflektierten, und schließlich zu Bourdieu kam, der am Ende des 20. Jahrhunderts, und zwar in seinen politischen Reden und Schriften der 90er Jahre, zur Schaffung einer neuen internationalen Solidarität aufrief, konnte sie nachweisen, dass der Solidaritätsbegriff auf sehr unterschiedlichen Ebenen verwendet wird: auf der inter-individuellen, der Gruppen-/oder Klassenebene, der nationalen und der internationalen/globalen bzw. der universalen Ebene der Menschheit als Ganzer. Autoren wie etwa Bourgeois, der nachmalige erste Präsident des Völkerbundes, hätten allerdings auch auf die Grenzen und Gefahren einer überzogenen Gruppensolidarität verwiesen, die, wenn sie hypostasiert werde, durchaus in A-Solidarität umschlagen könne.

Auf der Suche nach neuen Zugängen

In der sich an den Vortrag anschließenden Debatte erhielt die Referentin viele Anregungen zur Weiterarbeit an ihrer Studie. Zum einen kristallisierte sich heraus, dass es offensichtlich nicht einen Begriff von Solidarität gibt, sondern sehr unterschiedliche, die sich sowohl im Laufe der Zeit herausbilden als auch sich durch differenzierte nationale Traditionen unterscheiden und zudem durch ihre Verwendung in unterschiedlichen Klassen, Gruppen und Schichten. In jedem Falle müsse der Solidaritätsdiskurs sehr stark in den jeweiligen sozialhistorischen Kontext zurückgebunden werden, in welchem er geführt werde. Ganz grundsätzlich aber sei zu unterscheiden zwischen einem ehr normativ aufgeladenen und einem eher nüchtern-analytischen Solidaritätsbegriff – darauf verwiesen insbesondere Beate Krais und Irene Dölling. In diesem Sinne schlugen sie auch vor, bei der weiteren Arbeit am Thema eine Bestandsaufnahme unterschiedlicher Verwendungsweisen des Begriffs und sozialer Praktiken von Solidarität in Geschichte und Gegenwart vorzunehmen. Frank Deppe machte auf die Notwendigkeit aufmerksam, noch stärker als bereits geschehen die frühsozialistischen Wurzeln des Solidaritätsdiskurses etwa bei Babeuf, Blanqui und Proudhon herauszuarbeiten; ein linker Solidaritätsbegriff impliziere stets auch einen kritischen Kapitalismusbegriff und ein expliziertes Verhältnis zum Sozialstaat. Mario Candeias betonte, dass der zuweilen zum Abstrakten tendierende Solidaritätsdiskurs mit solchen Konzepten wie Macht und Interesse verbunden werden müsse, und was die aktuelle Debatte anbelange, so sei durchaus eine Verlinkung des Themas mit derjenigen über die wachsende Prekarisierung von unterschiedlichsten Schichten der Bevölkerung möglich und erforderlich. Alfred Spieler wiederum, selbst bei der „Volkssolidarität“ tätig, machte deutlich, dass eine Klärung des linken Umgangs mit dem Begriff der Solidarität durchaus von praktischer Relevanz ist: Denn in seiner Vereinigung gebe es sehr unterschiedliche, ja gegensätzliche Vorstellungen von Solidarität, die von der Fürsorge für Arme und Kranke, Kinder und Jugendliche in Notsituationen bis zur Vorstellung reichen, die Selbstverantwortung eines/einer Jeden für das eigene Schicksal müsse mehr gestärkt werden. Hier komme es zuweilen fast zu Zerreißprobe, und vor diesem Hintergrund habe er auch ganz persönlich das Bedürfnis nach einer deutlicheren Klärung unseres, also eines linken, aktuellen Verständnisses von Solidarität.

Die “Fallen” eines Begriffes

Friederike Habermann problematisierte den Solidaritätsbegriff, wie er sich u.a. aus der universalistischen, aber doch letztlich eurozentristischen Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts heraus entwickelt habe, die doch, bei allem (scheinbaren) Universalismus, immer den „weißen westlichen Mann“ als Menschenbild voraussetze und insofern stets imperiale und exkludierende Elemente in sich berge. Wer also, so sei stets zu fragen, werde in den jeweiligen Solidaritätsbegriff eingeschlossen, wer aber somit auch ausgeschlossen? Judith Dellheim akzentuierte, dass Solidarität nicht nur ein theoretisches Thema sei, sondern von verschiedensten Akteuren in unterschiedlichsten Formen und Weisen praktiziert werde; so prägten sich heute diverse emanzipative kulturelle Milieus aus, in denen Solidarität gelebt werde. Etwa wenn es um moderne Stadtgestaltung oder um die Definition von Kinderrechten gehe, handele es sich immer auch um spezifische Formen des Umgangs mit Solidarität.
Franziska Wiethold wiederum war der Auffassung, dass solche Begriffe wie Solidarität, ähnlich wie etwa auch Gerechtigkeit, von einer gewissen Unschärfe leben. Offenbar gab und gibt es ein Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit und Mitmenschlichkeit, das sich u.a. eben in der Verwendung eines durchaus diffusen, unpräzisen Solidaritätsbegriffs äußere. Ihre daraus resultierenden Fragen: Müsse also dieser Begriff nicht einen bestimmten Grad an Unbestimmtheit beibehalten, um anschlussfähig zu sein für größere soziale Gruppen? Habe nicht der proletarische Solidaritätsbegriff auch stark exkludierende Züge getragen? Müsse ein voranzutreibendes linkes Solidaritätsverständnis, das unter den heutigen Bedingungen praktikabel und konzeptionelle Voraussetzung breiterer Bündnisse ist, nicht notwendigerweise offener sein, als dies beim proletarischen Konzept des 19. und 20. Jahrhunderts der Fall war? Welches Staatsverständnis müsse ein modernes linkes Solidaritätskonzept voraussetzen? Wie ist das Verhältnis von Sozialstaat und Eigenverantwortung der Menschen zu gewichten? An diese Fragen knüpfte auch Matthias Schindler an, seinerseits Unternehmensberater. Wenn nur auf die vor- und fürsorgende Rolle des Staates rekurriert werde, dann gingen viele emanzipatorische Ansätze verloren. Von daher interessierten ihn v.a. auch Formen des solidarischen Wirtschaftens in Genossenschaften, allerdings auch das durchaus problematische Verhältnis von innergenossenschaftlicher Solidarität und konkurrenziellem Verhalten derselben Genossenschaftsmitglieder, sobald sie auf dem Markt agieren, ebenso wie aber auch die aktuellen Formen von Solidarität auf internationaler/globaler Ebene.

Solidarität – Überlebensstrategie angesichts realer sozialer Gegensätze

In Zusammenfassung dieser Vormittagsdebatte ging Lutz Brangsch noch einmal auf die Vorgeschichte der „Initiative für eine neue Solidarität und eine gerechte Gesellschaft“ an der RLS ein: Nicht zufälligerweise hätten sich deren Initiatoren dafür entschieden, eben den Begriff der Solidarität – und nicht den der Gerechtigkeit – in den Mittelpunkt zu rücken, sei doch beim Konzept der Solidarität das Moment der Eigenverantwortung, also der emanzipatorische Charakter, stärker ausgeprägt als bei „Gerechtigkeit“.
Diese Debatte wurde nach einem kurzen Mittagessen fortgesetzt, als es um den Zuschnitt der Initiative ging, wie er in dem von Lutz Brangsch im Vorfeld verschickten Projektumriss enthalten war. Sich auf diesen beziehend, machten die TeilnehmerInnen konzeptionelle Anmerkungen sowie auch Vorschläge, was denn bei der weiteren Arbeit in diesem Rahmen inhaltlich zu berücksichtigen wäre. Dabei kristallisierte sich in etwa Folgendes heraus:
Bei der Erarbeitung eines unter den heutigen und künftigen Bedingungen praktikablen linken Solidaritätsverständnisses müsse darauf geachtet werden, dass dieses offener ist, als dies in der linken proletarischen Bewegung des 20. Jahrhunderts der Fall war. Insbesondere vor dem Hintergrund fundamentaler Wandlungen in der Arbeitswelt, der Dezentrierung der klassischen Lohnarbeit und der Zunahme anderer Arbeits- und Beschäftigungsmuster und damit Lebensweisen müsse ein linkes Solidaritätsverständnis auf ein weitaus größeres Spektrum sozialer Akteure abheben, als in dieser Tradition bislang üblich. Irene Dölling, die sich in diesem Sinne gar für einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ aussprach, um den es angesichts der fundamentalen Krise des neoliberalen Kapitalismus und der zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaften gehen müsse, forderte dazu auf, den Ausgangspunkt zu nehmen bei den drängenden sozialen Problemen, vor denen die Menschen stehen, und davon ausgehend die notwendigen Gehalte eines linken Solidaritätsverständnisses zu bestimmen. Grundsätzlich gehe es um notwendige Beschränkungen der Radikalität des derzeitigen Kapitalismus und die Gewährleistung des freien Zugangs aller Gesellschaftsmitglieder zu den öffentlichen Gütern. Was, so ihre Frage, ist unsere Stimme in diesem öffentlichen Diskurs?
Effi Böhlke stellte die Frage, ob nicht, mehr als dies bisher der Fall sei, auch die Felder Bildung und Kultur in das Projekt einbezogen werden müssten. Immerhin gehe es auch gerade in diesem Zusammenhang um die Beibehaltung der Partizipationsmöglichkeiten Aller, insbesondere auch von Kindern und Jugendlichen, an den öffentlichen Gütern und, vermittelt darüber, am gesellschaftlichen Leben überhaupt.

Solidarität und Sozialstaat

Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass auch im Kontext der Debatte über ein neues linkes Solidaritätsverständnis die Rolle des Sozialstaats neu zu bestimmen sei: Gerade aufgrund der stark etatistischen Tradition der traditionellen Linken müsse dieses Verhältnis neu definiert werden. Beate Krais schlug vor, das Solidaritätsthema unter geschlechterspezifischer Perspektive zu analysieren: Immerhin seien traditionelle Solidaritätspraktiken der Linken stark männerdominiert, etwa im gewerkschaftlichen Spektrum; gibt es, so könnte man nun fragen, auch spezifisch weibliche Formen von Solidarität, oder, besser noch: Wie müsste ein linkes emanzipatorisches Solidaritätsverständnis aussehen, das auf die Aufhebung männlicher Herrschaft abzielt? Problematisiert wurde mehrfach der Begriff „Neue Solidarität“. Was, so die Frage, ist damit wirklich gemeint? Sollte man evtl. das Wort „neue“ streichen?
An die Anbringung der Plakate und das Zeigen des Filmes zu Beginn der Veranstaltung anknüpfend, machte Viola Schubert-Lehnhardt den Vorschlag, bei einer der nächsten Zusammenkünfte könne doch jede(r) TeilnehmerIn ein Bild oder Buch über Solidarität mitbringen, das für sie/ihn besonders einflussreich gewesen sei. Ebenso forderte sie, wie auch Beate Krais, künftig mehr junge Leute, u.a. Studenten, in den Kreis mit einzubeziehen, um deren Verständnis von und Umgehen mit Solidarität stärker integrieren zu können. Mehrfach wurde die Frage aufgeworfen, ob die Differenzierung zwischen Prekären und Nicht-Prekären tatsächlich im linken Solidaritätsdiskurs verwendet werden sollte oder ob dies nicht bereits ein Mitspielen des herrschenden Diskurses bedeute, der zum einen die tatsächlichen Dominanzverhältnisse verschleiere, sie zum anderen aber gerade dadurch auch reproduziere, und zudem die Bündnisfähigkeit der Linken minimiere. Was also, so lautet die Frage, müsste diesbezüglich eine angemessenere Sprech- und damit schließlich auch Denkweise der Linken sein?
Franziska Wiethold war der Auffassung, bei einer der nächsten Veranstaltungen sollte, in Analogie zu dem Vortrag über französische Traditionen im Umgang mit dem Solidaritätsdiskurs, über spezifisch deutsche entsprechende Traditionen gesprochen werden, in denen die Vorstellung von Sozialpartnerschaft eine ganz andere Rolle spielten als anderswo. Dem schlossen sich mehrere TeilnehmerInnen an.
Insgesamt, auch wenn der Kreis an diesem 7. November zunächst noch relativ klein war, war die Debatte doch sehr aufschlussreich und anregend. Das betonte auch Lutz Brangsch in seinem Resümee des Tages. Bei der weiteren Präzisierung des Projekts würden all die Anregungen und Fragestellungen, die aus der Debatte resultierten, gesichtet, geprüft und einbezogen. Zum einen müsse der Fragekatalog konkretisiert und möglicherweise erweitert werden, zum anderen aber auch einer Entleerung des Solidaritätsbegriffs entgegengewirkt werden.

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