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Innenansicht auf den Eingang zur RLS-Bibliothek, ca. 2023. Rechts die Theke mit dem Bibliotheksteam. Links die Arbeitstische für Besucherinnen und Besucher und alle, die Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Internetzugang etc. in einem öffentlichen, linken Arbeitsraum zu schätzen wissen.

Der Lesesaal im ersten Stock des Stiftungsgebäudes erschien mir wie Neville Longbottom der Raum der Wünsche im fünften Band von Harry Potter. Den Raum der Wünsche findet nur, wer ihn wirklich braucht. Als der etwas schusselige Zauberschüler eines Abends das Schloss auf der Suche nach einem Ort durchstreifte, wo eine Gruppe Gleichgesinnter Zaubersprüche lernen und praktizieren könnte, um sich im Falle eines Angriffs von Lord Voldemort und seinem Gefolge verteidigen zu können, wurde er fündig.

Wir in Berlin müssen uns zwar nicht gegen einen mörderischen Magier zur Wehr setzen, aber immerhin gegen die herrschenden Kräfte, die sich global vernetzen, von rechts vereinnahmen lassen und in deren Strukturen sich der zunehmend begrünte, aber weiterhin zerstörerische Kapitalismus nahtlos einzufügen scheint. Soziale Gleichheit, ökologische Gerechtigkeit, Post-Kolonialismus, Anti-Faschismus, kurz ein Gutes Leben für Alle, bleibt unter diesen Umständen ein Phantom – von wenigen gesehen, vielleicht sogar gefürchtet, von vielen gejagt oder vielmehr ersehnt.

Den Lesesaal der RLS entdeckte ich in einem Moment, in dem ich diesen am meisten benötigte: Nach isolierten Monaten während der Pandemie, zu Beginn meiner Promotion und inmitten meines aktivistischen Engagements, das genauso wie mein wissenschaftliches Tun in den privaten und digitalen Raum gezwängt wurde, wo mir die Luft zum Atmen ausging.

Ich bin Nina. Ich gehöre zu den Privilegierten mit Promotionsstipendium der Stiftung und bin dort auch Mitglied im Graduiertenkolleg „Krise und sozial-ökologische Transformation“, das Markus Wissen zusammen mit dem Studienwerk aufgebaut hat. Markus und Uli Brand betreuen auch meine Promotion, in der ich mich mit dem Lithiumextraktivismus in Chile beschäftige (mehr zu meinem Promotionsprojekt erzähle ich in zwei Interviews: im Jahresbericht der RLS und bei stipendiumplus.de). Wenn ich nicht gerade in Chile bin, was weder ohne die finanzielle Förderung der RLS noch die Unterstützung meiner Betreuer und Kolleg*innen im Kolleg möglich wäre, dann halte ich mich in der Stiftungsbibliothek auf. In diesem Raum recherchiere ich, schreibe an meiner Diss und wissenschaftliche Aufsätze, entwickle Blogeinträge und politische Papiere. Dort studiere ich Gramscis hegemonietheoretischen Überlegungen und verflechte diese mit Gedanken seiner lateinamerikanischen Genossen wie José Carlos Mariátegui. Mit den beiden führe ich regelrechte Diskussionen in der Bibliothek, wo ich mich auch als Klimaaktivistin organisiere.

In diesem Raum fühle ich mich frei, denke radikal und anders. Und Rosa schaut mir dabei im wahrsten Sinne des Wortes über die Schulter. Mich inspiriert die Naturliebhaberin und Kämpferin für globale Gerechtigkeit. Dasselbe gilt im Übrigen für die Menschen, die an ihr Werk erinnern und mehr noch, es fortführen. Damit meine ich die Mitarbeitenden der Stiftung. Im IfG zum Beispiel produzieren (organische) Intellektuelle kritisches Wissen, ob theoretisch oder auch praktischer, und tragen dieses in andere Räume, angefangen bei Gewerkschaften wie ver.di, über Sozial- und Umweltverbände bis hin zur Partei. Sie geben ihr Wissen in die Hände der sozialen Bewegungen, die es gut nutzen und denen nicht wenige der Mitarbeitenden selbst angehören. Weil sie die Welt nicht nur verstehen, sondern sie auch ändern wollen. Das machen die Menschen in der Akademie oder im Studienwerk täglich, genauso wie in der Bibliothek, im Veranstaltungsmanagement. Ohne die fleißigen Leute in den Zentralen Aufgaben würde der Laden erst gar nicht laufen, daran aber sollte dem Vorstand gelegen sein und ermöglichen, dass alle ihre Arbeit gut erledigen können. Überall werkeln sie bislang so bedingungslos und engagiert an unserem gemeinsamen Ziel, das System an den Wurzeln zu packen und komplett umzukrempeln, mich inspirieren sie allesamt.

Und ich glaube, das geht auch anderen so. Bernd bestimmt, dem ich oft im Lesesaal gegenübersitze und ihm manchmal dabei zuschaue, wie er einen weiteren Band der MEW aus dem Regal fischt, um ihn für sein nächstes Treffen mit dem Marx-Lesekreis durchzuarbeiten. Oder eine andere Promovendin, die sich durch diverse Stapel an Akten zur PDS arbeitet. Oder Interessierte aus der Zivilgesellschaft, die zum Lesen kritischer Literatur dorthin kommen, die es derart verdichtet nicht allerorts gibt. Auf jeden Fall nicht mit dieser solidarischen Unterstützung des Bibliotheksteams, das zukünftig auf Uwe Michel – einen loyalen Mitarbeiter, kritischen Sozialisten und feinen Menschen – verzichten muss, der an dieser Stelle fehlen wird.

Wenn sich Räume heutzutage von rechts her verkleinern und diese Bewegung nicht im selben Moment aufzuhalten ist, dann liegt es doch nahe, Lesesäle und andere Orte für die Produktion von kritischem und nützlichem Wissen auszuweiten, nicht zu begrenzen. Letzteres wäre, wie sich Voldemort freiwillig zum Fraß vorzuwerfen – und das wäre wirklich Quark.

 

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