Sozialismus oder Barbarei heißt es oft – und tut, als seien das Optionen für Zukünftiges und wir könnten noch, wenn wir dies und das hier und dort und überhaupt usw. Aber gestehen wir es uns einen Moment lang ein: Barbarei ist schon seit einiger Zeit nicht mehr Option für die Zukunft. Barbarei ist Realtität im Jetzt. Wir sind mitten drin. Barbarei herrscht auf den unterschiedlichsten Ebenen und Themengebieten. Subjektiver Selbstschutz ermöglicht in der Regel, das zu verdrängen. Neulich ist mir das eine Weile lang jedoch nicht mehr gelungen. Die Barbarei war mir begegnet im weißen Kittel, bzw. im vermeintlich akademisch-aufgeklärten Jargon der Medizin-Ethik.
Bevor ich den eigentlichen Fall aufreiße, ein bisschen Kontext: Aus Indien wird uns schon seit Jahren über verarmungsbedingte Selbstmordwellen unter sog. Kleinbauern berichtet. (Selbst) die FAZ hat das im Blick über die Jahre, siehe z.B. Berichte von 2015 und 2020. Was meist mit dem Ruch des Rückständigen präsentiert wird, bildet immer noch das Rückgrat der bisher nicht komplett kapitalistisch kolonisierten und aufgrund profit-orientierter Landnahme heftig umkämpften landwirtschaftlichen Versorgung in Indien (hier berichtet dann doch besser die RLS: 2019 und 2020).
Aber nicht nur im globalen Süden geht es so zu. Die Financial Times Deutschland berichtete 2009 über eine Serie von krisenbedingten Selbstmordwellen in mehreren französischen Konzernen. Der Präsident musste einschreiten. Den Aktienkursen der betroffenen Konzerne schadete das damals mehrheitlich nicht (siehe Kurs-Schnippsel unter dem Artikel). Um 2010 häuften sich die (weltweit berichteten) Selbstmorde beim Hersteller von iPhones und anderer High-Tech-Produkte “werte-westlicher” Marken in China. Selbstmorde und erst recht Selbstmordwellen galten damals generell noch als Entgleisungen. Es sei eine Anomalie im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise, wenn die Arbeitskraft – statt sich wie prekär auch immer zu reproduzieren – auf die Idee komme, dem “stummen Zwang der Verhältnisse” durch Selbstmord auszuweichen.
Massenhafte Selbstmorde gab es auch in Griechenland infolge der EU- und letztlich aus dem deutschen Finanzministerium betriebenen Verelendungspolitik. (Mehr zur sog. Austeritätspolitik gegen Griechenland in der immer noch lesenswerten “Schummelgriechen”-Publikation der RLS.) Eine Bildergalerie im Magazin der Süddeutschen Zeitung montierte 2013 die wunderschönen Aufnahmen griechischer Traumstrände gegen die Geschichten derjenigen, die an diesen Stränden “ins Wasser gingen”:
Im Jahr 2008 nahmen sich in Griechenland knapp 300 Menschen das Leben. Laut der Weltgesundheitsorganisation hatte Griechenland damals die niedrigste Selbstmordrate in Europa. Doch seit Beginn der Krise hat sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Schätzungen der Hilfsorganisation Klimaka gehen davon aus, dass sich seit Anfang 2010 weit mehr als 2.000 Griechen das Leben genommen haben.” Quelle: SZ Magazin
Diese statistischen Werte dürften niedriger liegen als die tatsächliche Anzahl der Selbstmorde, denn die Kirche beerdigt keine Suizidopfer. Viele Familien machen den Selbstmord eines Verwandten zum Unfall, viele Dorfpolizisten helfen dabei.
Fassen wir zusammen: Selbstmord aufgrund sozialer Aussichtslosigkeit war bisher zwar schon weit verbreitet, galt aber immer noch nicht als normale Option im Rahmen der Angebote, die die kapitalistische Produktionsweise und das damit verbundene Wertesystem seinen Subjekten macht.
Sprung in die Gegenwart. In Kanada lässt sich derzeit beobachten, wie die Normalisierung dieser Anomalie zunächst auf diskursiver Ebene vorbereitet wird. Sterbehilfe für medizinisch aussichtslose Fälle ist dort bereits “normalisiert” (zum Normalisierungsbegriff vgl. Jürgen Link: Normalismus): Ein Gesetz namens MAiD (Medical Assistance in Dying) regelt seit 2016 die Einzelheiten. Aber die Debatte bleibt am Gegenstand: Nun empfiehlt ein Artikel in einer medizin-ethischen Fachzeitschrift, Sterbehilfe auch in sozial aussichtslosen Fällen legal anzubieten.
Ich lasse DeepL das gesamte Abstract dieses Textes übersetzen, das mit der Empfehlung zur Sterbehilfe in sozial aussichtslosen Fällen schließt. Denn ich finde es bemerkenswert, wie die Barbarei hier im wissenschaftlich-ethischen Schafspelz auftritt und normative Kraft entfaltet:
In diesem Aufsatz befassen wir uns mit Fragen, die sich aus Fällen ergeben, in denen Menschen unter ungerechten sozialen Umständen um medizinische Sterbehilfe bitten. Wir entwickeln unser Argument, indem wir zwei Fragen stellen. Erstens: Können Entscheidungen, die im Kontext ungerechter sozialer Umstände getroffen werden, sinnvollerweise autonom sein? Unter “ungerechten sozialen Umständen” verstehen wir Umstände, in denen Menschen keinen angemessenen Zugang zu den ihnen zustehenden Möglichkeiten haben, und unter “Autonomie” verstehen wir Selbstbestimmung im Dienste persönlich sinnvoller Ziele, Werte und Verpflichtungen. Die Menschen würden sich unter diesen Umständen anders entscheiden, wenn die Bedingungen gerechter wären. Wir prüfen und weisen Argumente zurück, wonach die Autonomie von Menschen, die sich im Kontext von Ungerechtigkeit für den Tod entscheiden, zwangsläufig eingeschränkt sei, entweder durch die Einschränkung ihrer Möglichkeiten zur Selbstbestimmung, durch die Verinnerlichung unterdrückerischer Haltungen oder durch die Untergrabung ihrer Hoffnung bis zu dem Punkt, an dem sie verzweifeln.
Zweitens: Sollte MAiD [Medical Assistance in Dying; das kanadische Sterbehilfe-Rechtsregime, me] für Menschen unter solchen Umständen zur Verfügung stehen, selbst wenn ein stichhaltiges Argument dafür angeführt werden kann, dass die betreffenden Personen autonom handeln? [sic: “Second, should MAiD be available to people in such circumstances, even when a sound argument can be made that the agents in question are autonomous?”] Als Antwort darauf verwenden wir einen Ansatz zur Schadensbegrenzung und argumentieren, dass MAiD verfügbar sein sollte, auch wenn solche Entscheidungen tragisch sind. Unsere Argumentation bezieht sich sowohl auf relationale Theorien der Autonomie als auch auf die jüngste Kritik an diesen Theorien. Sie soll allgemein anwendbar sein, auch wenn sie als Reaktion auf die kanadische Rechtslage in Bezug auf MAiD entstanden ist, wobei der Schwerpunkt auf den jüngsten Änderungen der kanadischen Kriterien für die Inanspruchnahme von MAiD liegt.” Quelle [herv.: me]
Wir können hier beobachten, wie die Normalitätsgrenzen von einer autoritativen Sprechposition aus (“akademische Experten”) aufgeweicht werden und ggf. – je nach Verlauf der Debatte und den Kräfteverhältnissen darin – verschoben werden. Bisher läuft die Debatte, soweit ich sehe, nur zwischen Neoliberalen einerseits und Lebensschützern u.ä. andererseits. Deutschsprachig hat das Thema bisher nur der Anti-Spiegel aufgegriffen. Das wird dem Klassencharakter dieses (noch: Diskurs-)Phänomens jedoch nicht gerecht. Denn spannend wird es ja, wo sich solche ethischen Positionen in der Praxis verbinden mit Sozialabbau und der Demontage öffentlicher Daseinsvorsorge. Denn dann wäre ein Karriereberatungs-Chat-Modell nicht mehr falsch programmiert oder trainiert, wenn es zu dem Schluss käme: “Ihre beste Option nach Abwägung all Ihrer Möglichkeiten: Lassen Sie sich umbringen. Dies ist eine Empfehlung, die einem Ansatz zur Schadensbegrenzung folgt.”