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 Der Titel des vom Büro Peking der RLS und der Schule für Marxismus der Universität Peking veranstalteten Workshops “Sozialismus und Moderne in China” war sehr allgemein und lies nicht von vornherein stürmische Debatten erwarten. Für viele in Westeuropa ist das Urteil über die chinesische Entwicklung ohnehin klar – China gehe, so eine verbreitete Auffassung, den Weg des Staatskapitalismus. Welchen Raum für Sozialismus soll es dabei also geben? Freilich ist diese auf den ersten Blick schlüssige These gleichzeitig inhaltsleer. Denn was bedeutet Staatskapitalismus? Die marxsche Tradition ist bei weitem nicht so starr, wie man ihr unterstellt. Schon Lenin wollte mit der Errichtung der Neuen Ökonomischen Politik einen Staatskapitalismus in Sowjetrussland durchsetzen – aber nicht als Kopie der Verhältnisse in Deutschland oder anderen imperialistischen Mächten, sondern einen „Staatskapitalismus unter der Diktatur des Proletariats“. Er versuchte damit die Frage zu beantworten, wie Länder, die nicht aus einem entwickelten Kapitalismus in eine nachkapitalistische Ordnung übergehen wollen, dies bewerkstelligen könnten. Wenn heute in China diese Frage aufgeworfen wird, wird also ein altes und ungelöstes Problem wieder angesprochen. In der Sowjetunion wurde der von Lenin angedeutete Weg abgebrochen, bevor er konsequent beschritten wurde, in anderen Ländern wurde er nicht einmal ernsthaft in Betracht gezogen. Die vor allem zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutierten Theorien der Übergangsperiode in den Ländern des europäischen Realsozialismus wie auch in den „Entwicklungsländern sozialistischer Orientierung“ konnten keine praktischen Erfolge zeitigen und wichen oft auch brisanten Fragen aus.

Allein diese historische Reminiszenz macht deutlich, dass das Bestreben chinesischer WissenschaftlerInnen, nicht nur trotz, sondern gerade wegen der starken kapitalistischen Tendenzen die Frage nach dem Weg und nach den Bedingungen der Durchsetzung sozialistisch-emanzipativer Ansätze zu diskutieren, mehr als legitim ist. So steht hinter dem Titel des Workshops eine tatsächlich harte strategische Auseinandersetzung in der chinesischen Gesellschaft. Die Wahl des schillernden Begriffs der Moderne war dabei ein guter Bezugspunkt, weil er auf die Frage verweist, wie die ja durchaus gegenüber vorbürgerlichen Gesellschaften wichtigen emanzipatorischen Errungenschaften der bürgerlich-kapitalistischen Ära mit den diese weitertreibenden und über sie hinausgehenden Elementen einer sozialistischen Umwälzung verbunden werden können. Die auf Marx zurückgehenden sozialistischen Konzepte und Praxen hatten mehr oder weniger bewusst immer die „Errungenschaften der bürgerlichen Ära“ in Wirtschaft und Gesellschaft als Voraussetzungen bzw. Bedingungen einer sozialistischen Revolution in Rechnung gestellt.

Diese Problematik des Übergangs, der Gleichzeitigkeit an sich unvereinbarer Elemente in Politik, Ökonomie, Kultur und dem sozialen Leben überhaupt, prägte die Diskussion. Die Modernisierung Chinas sei ein „unvollendetes Projekt“ und der Ausgang, so eine der Quintessenzen der Diskussion, ist noch offen. Auch für die aus Deutschland angereisten TeilnehmerInnen ist dieses Thema relevant. Die Rücknahme gerade der emanzipatorischen Tendenzen in der bürgerlichen Gesellschaft ist ein prägendes Merkmal der Realität des Westens. Somit stellen sich, quasi spiegelbildlich, in China und im „Westen“ ähnliche Fragen. Zudem stellt sich die Frage, wie die chinesischen Erfahrungen ihrerseits in den westlichen Moderneauffassungen bzw. Sozialismusauffassungen ihren Niederschlag finden. Das müssen sie, wenn man ernsthaft von universellen Elementen sprechen will.

Der Veranstalter sieht sich als Plattform für ein interdisziplinäres Herangehen an dieses Problem. Gerade in den ablaufenden Umbruchprozessen seien kontinuierliche Forschungsprozesse nötig. Man habe, so hieß es in den Begrüßungsworten, drei Möglichkeiten: erstens könne man die ablaufenden Prozesse hinnehmen, ohne sie bewusst zu gestalten, sich vom Geschehen treiben lassen, zweitens die Dinge laufen lassen und „Nachsorge“ betreiben oder drittens vorausschauend handeln. Die Schule des Marxismus sehe sich als Teil der dritten Variante.

Bezugspunkt waren Marx und die in China und Westeuropa entstandenen marxistischen bzw. Strömungen. Hervorgehoben wurde vor allem die Ganzheitlichkeit des marxschen Blicks auf die Gesellschaft und sein Verständnis der Dialektik der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung, der emanzipatorischen und der repressiven, zerstörerischen Tendenzen. Ein wesentliches Element der Moderne sei ihre „Selbstspaltung“, ihre innere Widersprüchlichkeit. Die marxsche Kritik sei ein wesentlicher Ansatz, um die Errungenschaften der Moderne mit den chinesischen Besonderheiten zu verbinden. Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstaufhebung seien wesentliche Voraussetzungen, um die Entfremdungstendenzen und damit den Rahmen der (bürgerlichen) Moderne sprengen zu können.

Ein zentraler Punkt des Austauschs war dabei die Frage, worin das Allgemeine und das Besondere auf dem Weg zu einer nachkapitalistischen Gesellschaft bestehe. Diese Frage wurde unterschiedlich formuliert – etwa als Frage nach dem Universellen und Besonderen der Moderne, nach der Existenz universeller Werte u.ä. Dabei wurde, völlig berechtigt, die Bedeutung der Aufklärung für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaften in Europa bzw. dem „Westen“ betont. Die chinesischen TeilnehmerInnen befragten die eigene Geschichte nach analogen Prozessen und kamen zu dem Ergebnis, dass eine ähnliche Bewegung erst relativ spät einsetzte und bedingt durch die halbkolonialen Verhältnisse sich auch nur viel schwächer entfalten konnte. Ein Referent vertrat die Auffassung, dass eine mit Aufklärung und Modernisierung vergleichbare Tendenz in China erst mit Deng Xiaoping Ende der 1970er Jahre entstanden sei, die vorher bestehenden aufklärerischen Tendenzen seien durchweg gescheitert. Dem wurde entgegengehalten, dass die „Bewegung für eine Neue Kultur“, die „Bewegung des 4. Mai“ sowie die Wirkungen der Revolution in Russland 1917 durchaus in ernsthafter Weise Modernisierungsprozesse in Gang gesetzt hätten. Damit spaltete sich die Modernisierungsdebatte schon an ihrem Beginn in einen liberalen und einen marxistischen Flügel. Der innere Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft, der im Westen im Verlauf von fast 200 Jahren erst schrittweise sichtbar wurde, ist in China von Anfang an präsent und wurde durch den Konflikt zwischen der Sowjetunion und der kapitalistisch dominierten Welt verstärkt. Zudem, so weiter, hätten die Interventionen westlicher Mächte den Modernisierungsprozessen in China ihren Stempel aufgedrückt. Ganz abgesehen von den sozialökonomischen Verhältnissen wurden die Werte der Aufklärung zu Werten von Unterdrückern und so von vornherein fragwürdig. Alte chinesische Werte, wie die Akzeptanz eines streng zentralisierten Staates, starkes Ressortdenken und die Gewöhnung an paternalistische Verhältnisse wurden unter anderem deshalb konserviert und stehen nun einer Modernisierung im Wege. Der Mensch, so hieß es in einem der Beiträge, als „Zweck“ fehle. Gleichzeitig seien mit den Vorstellungen zur Einheit von Mensch und Natur oder der ausgeprägten Solidarität zwischen den Generationen Werte vorhanden, die in dieser Weise der Westen nicht kenne und die neben dem antikolonialen Bewusstsein eine wichtige Ressource eigener Entwicklungsvorstellungen bildeten. In den Jahren der Reformen seien aber auch neue Widerspruchsfelder entstanden. Vor allem wachsende soziale Differenzierung, die Umweltbelastung und wachsender Konsumismus wurden als zentrale Herausforderungen identifiziert. Es fehle eine Kohärenz von „Wirtschaftsmoderne“ und „Wertemoderne“. Auch sei offen, wie man von einem „starken Staat“ als wichtigem Motor der Entwicklung zu einer stärkeren Betonung der Entfaltung von Individualität (bei Wahrung von Gesellschaftlichkeit und Solidarität) kommen könne.

Welche gesellschaftliche Atmosphäre sei nötig, um vor diesem Hintergrund eine Synthese der emanzipatorischen Errungenschaften der Moderne mit den chinesischen Besonderheiten zu erreichen, in diesem Sinne „die Gedanken zu befreien“? Das Bewusstsein, dass „moderne“ Konzepte in China durchaus „endogenen Charakter“ haben, also auch aus der eigenen Geschichte erwüchsen (wie sich in der Gründung der Republik und in der sozialistischen Revolution zeigte) gehöre auf jeden Fall dazu. Eine Spezifik sei eben, dass die chinesische Moderneauffassung auch direkt aus der marxschen Gesellschaftskritik entsprungen sei. Vor diesem Hintergrund wird die oben angeführte Kontroverse um das Einsetzen der „Moderne“ in ihrer Bedeutung klarer. Wenn dieser Prozess erst mit Deng Xiaoping einsetzt, würden nicht nur die liberalen bürgerlichen Diskussionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem Diskurs verschwinden, sondern auch die Erfahrungen des marxistischen Debatte und der äußerst widersprüchlichen Praxen vor dem Ende der 1970er Jahre. Es bestünde die Gefahr, Modernisierung eben als Kopie des „Westens“ zu begreifen.

Einen breiten Raum nahm natürlich die Diskussion der wirtschaftspolitischen Herausforderungen ein, die mit den angedeuteten Widersprüchen in der chinesischen Gesellschaft zusammenhängen. Bezüglich der inneren Verhältnisse betraf das die Frage der Möglichkeiten und Grenzen der Regulierung des Marktes, bezüglich der äußeren Verhältnisse die Wirkungen der Globalisierung.  Etwa wurde die Frage gestellt, ob eine „Marktwirtschaft“ zwangsläufig eine „Marktgesellschaft“ nach sich ziehen müsse. Welche Formen von Planung, Regulierung und demokratischer Kontrolle sind der Situation adäquat und bringen weiter? Wie soll man mit der immer noch gegebenen Überlappung von „prämodernen“ und „modernen“ gesellschaftlichen Beziehungen umgehen? Die Suche nach Lösungen derartiger Probleme stoße in China durchaus auch auf „linksradikale“ Hindernisse. Benannt wurden z.B. überzogene Vorstellungen zur Geschwindigkeit der Überwindung der marktwirtschaftlichen Elemente, die Überhöhung der Rolle des Plans und des staatlichen Eigentums oder die Verweigerung der Aufarbeitung der Kulturrevolution. Damit würden gesellschaftliche Lernprozesse blockiert. Aus den gescheiterten Projekten der Vergangenheit müssten Lehren dafür gezogen werden, wie eine „Teilnahmemodernität“ unter chinesischen Bedingungen aussehen könnte. In diesem Zusammenhang wurde die wachsende Bedeutung einer „institutionellen Modernisierung“ hervorgehoben, die der „Uferlosigkeit des Regierungshandelns“ entgegenwirken müsse. Kurz gesagt: wie sieht ein moderner Staat aus?

Betont wurde aber auch die Gefahr, dass angesichts der Zuspitzung internationaler Konflikte China in eine „national fokussierte Modernisierung“ zurückfallen könnte. Gleichzeitig bestehe die Gefahr, dass man in den Auseinandersetzungen dazu verführt werden könnte, das eigene Verständnis von Entwicklung anderen aufzuzwingen. Ein Blick in China Daily bestätigt, dass diese Befürchtung nicht ganz unbegründet scheint. Wie wird sich China verhalten, wenn seine Währung als Leitwährung an Gewicht gewinnt, wo liegen die Tücken der Seidenstraßen-Projekte oder des Engagements in Afrika? Wenn China die Moderne um das chinesische Moment bereichern und gleichzeitig die Begrenzungen der bürgerlichen Moderne sprengen will, wie es auf der Veranstaltung hieß, geht es hier um etwas völlig Neues, das auch nicht mit dem von den realsozialistischen Staaten verfolgten Grundsätzen friedlicher Koexistenz gleichzusetzen wäre.

Einen eigenen Fragenkomplex bildeten die sich aus den skizzierten Problemfeldern resultierenden Anforderungen an wissenschaftliches Arbeiten. Einig war man sich, dass der „Marxismus tiefer auszuloten sei“. Im Mittelpunkt der Arbeit sollte das Erfassen der Widersprüche der Praxis und der inneren Widersprüche gesellschaftlicher Prozesse stehen, wie auch das eigene Eingebundensein in diese Widersprüche. Ein hoher Stellenwert wurde der Verbindung von Theorie und Empiri eingeräumt. Der Zyklus „Theorie-Empiri-Theorie-Praxis“ sei eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung gesellschaftlicher Such- und Lernprozesse.

Im Rahmen dieses zweitägigen Workshops wurden vor allem Fragen und Probleme formuliert. Und selbst hier konnte nicht die ganze Breite der Widersprüche des „chinesischen Weges“ und des „westlichen Weges“ ausgelotet werden. Auch mögliche Lösungsrichtungen blieben offen – so war die Veranstaltung auch konzipiert. Zwischen den chinesischen TeilnehmerInnen blieb strittig, ob China in der Lage sei, die Widersprüche, die sich aus der Überlagerung derart vieler Entwicklungsprobleme ergeben, zu meistern. Einig war man sich dahingehend, dass es um mehr als ein „republikanischen Demokratismus“ gehe. In den nächsten Monaten sollen aus den Diskussionen Forschungsfragen abgeleitet werden, die in weiteren Treffen sowie in gemeinsamen Publikationen der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Pekinger Universität bearbeitet werden.

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