Fortschritt und Befreiung, möglich, nötig, utopisch und zu realisieren nur über den immer wieder zu diskutierenden und zu praktizierenden Versuch: Zwei Bücher sind es mir in diesem Zusammenhang wert, gegeneinander gehalten zu werden, da sie sich in einer wissenschaftlichen, d.h. auf Nachvollziehbarkeit gegründeten, transformativen Utopiedebatte hervorragend ergänzen:
Simon Sutterlütti/Stefan Meretz: Kapitalismus aufheben. Ein Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken, Reihe Beiträge zur kritischen Transformationsforschung Bd. 5, VSA: Hamburg 2018.
Dietmar Dath/Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2012.
Dath und Kirchners “Implex” erschien schon 2012, hat aber nichts von seiner Aktualität verloren, weil es sich um eine historische Arbeit handelt. Das Schreibtandem besucht
verschiede abstrakte und konkrete Schauplätze solcher Versuche, von den Staaten, ihren Kriegen und ihrem Wirtschaften, über die Wissenschaften und Künste bis zur Ethik und Erkenntnistheorie. … Held des Buches ist aber ein Begriff: … der Implex. Was er bei uns bedeutet, wird nicht langwierig erklärt, sondern auf den genannten Schauplätzen gezeigt, in freier Wildbahn und in Aktion.” (I 15)
Das induktive Vorgehen, das die beiden in ihrer zweiseitigen Vorabbemerkung andeuten, halten sie durch. Begriffsarbeit und Bezüge zu laufenden und historischen Theoriedebatte liefern sie an den Stellen, an denen ihr “Held”, der Implex, im historischen Gefecht um Möglichkeit und Wirklichkeit von sozialem Fortschritt dazu herausfordert. Im Focus stehen dabei das 18. und das 19. Jahrhundert. Ursuppenzeit sowohl der heute global dominierenden Vergesellschaftungsweise als auch der über diese hinausweisenden Transformationsperspektiven und -möglichkeiten.
In “Kapitalismus aufheben”, ganz frisch (2018) im Buchhandel, online im Volltext und mit eigener Homepage, gehen Sutterlütti und Meretz erkenntnistheoretisch den umgekehrten Weg. In einem zweiteiligen Youtube-Gespräch (1,2) zum Buch legen sie ihre politik- und erkenntnisleitende Sehnsucht offen: Es geht ihnen nicht zuletzt um saubere Begriffe – um überhaupt denken und diskutieren zu können. Zum Ausgangspunkt für ihre Darstellung nehmen sie die Unzulänglichkeit klassischer Transformationstheorien auf der Basis von Revolution und Reform. Von dort verfolgt ihre Begriffs- und Theoriearbeit deduktiv ausdrücklich ein strategisches Ziel,
sie wollen “der Hoffnungslosigkeit entgegentreten” indem sie “die Grundlagen einer emanzipatorischen Überwindung des Kapitalismus in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit theoretisch ergründen – und praktisch erahnen” und fragen, “wie eine freie Gesellschaft entstehen kann, wie das Neue im Alten beginnt und das Alte schließlich überwindet. … Es geht vielmehr um die Erkundung der objektiven Möglichkeit einer besseren Welt.” (KA 18f)
An diesem Erkenntnisinteresse hinsichtlich des Möglichen treffen sie sich mit Dath und Kirchner. Denn die wollen zeigen: In kapitalistischen Ausbeutungs-, Verwaltungs- und Herrschaftsverhältnissen sind viele Möglichkeiten sozialen Fortschritts angelegt, aber verborgen, also: implizit.
Wer die Klassengesellschaften studiert, sieht in ihnen die Momente ihrer möglichen Beseitigung. … Das nennen wir oben Möglichkeitsgeographie, Entscheidungsraum, das nennt dieses Buch den Implex.” (I 92)
Mit einer Raummetapher verbildlichen Kirchner und Dath, wo sie mit ihrer historisch-analytischen Spurensuche ansetzen. Dorthin zielen auch Sutterlütti und Meretz mit ihrem theoretisch-konstruktiven Zweischritt, wenn sie erstens einen “Rahmen für utopische Theorie und Aufhebungstheorie” aufbauen und zweitens ihre “eigene Utopie- und Aufhebungstheorie in diesem Rahmen vorstellen”, der “einen Raum [erschafft], in dem die verschiedenen Einzeltheorien ihre Gedanken formulieren und ihre verschiedenen Möbel aufstellen.” (KA 10). (Ein Schelm, wer schon hier an das düstere Fazit in Adornos Innenarchitektur-Aufsatz aus den Minima Moralia denkt: “Es gibt kein richtiges Leben im falschen.”)
So sehr sich Erkenntnisinteresse und Stoßrichtung ähneln, so sehr unterscheidet sich die Vorgehensweise. Wo Dath/Kirchner ein gutes Dutzend gesellschaftliche Felder (“Gesichtskreise”) durchackern und assoziationsreich ganz und gar nicht an Polemik sparen, können Sutterlütti/Meretz ihre Buchstruktur sogar in Diagrammform präsentieren (vgl. Abb. 1) und setzen auf eine beinahe schon penetrant gewaltfreie Rhetorik. Wo die einen ihre weniger belesenen Leser_innen mitunter überfordern und damit je nach Temperament verärgern oder ermüden, verleiten die anderen mit ihrem Anschein von Schematismus zum Querlesen und Überblättern. Interessanterweise ähnelt sich das Abstraktionsniveau beider Bücher zum jeweiligen Ende hin. Die Ausführungen zu Grundlagen und Verhältnissen eines gesellschaftlich dominanten Commonismus bei Sutterlütti/Meretz sind ähnlich konkret wie das Programm, mit dem Dath und Kirchner ihr Buch abschließen. Letztere erheben mit ihrem letzten Kapitel unter dem Titel “Der explizite Implex” zwar nicht den Anspruch einer Transformationstheorie, präsentieren aber immerhin eine “Ermöglichungschoreographie” (I 803).
Die “Ermöglichungschoreographie” hat die Form eines “Programms” (I 807) und geht entlang der schon die vorhergehende Darstellung gliedernden Gesichtskreise: im Ökonomischen, Sozialen, Politischen, Technischen, Wissenschaftlichen, Philosophischen und Ästhetischen. Dabei bilanzieren sie ihr Buch als eine
Maschine, die versucht, diverse derartige Eigengesetzlichkeiten als Bauelemente von Lese-, Kopier- und Ersetzungsapparaten des Geschichtsdenkens aufzufassen und auszuprobieren; dabei greifen Dinge ineinander, die man wissenschaftlich finden kann, andere, die philosophische Züge haben, und ein bißchen Konzeptkunst könnte auch noch darin stecken. Ein Wunsch, den wir nicht weiter begründen wollen, war es, etwas zu bauen, das nur von denen überhaupt benutzt werden kann, die unsere eigenen Zwecke schon teilen; … die eine oder andere Passage wird um so dunkler gefunden werden, je weniger man sich vorstellen mag oder kann, daß das, was wir erstrebenswert finden, überhaupt zu machen ist” ( I 833).
Ja, viele Sätze in dem dicken Buch sind viel zu lang – quasi Verschlüsselung durch Überlänge. Entschlüsselendes Lesen ist jedoch möglich, Vorstellungsbereitschaft ist gefordert und infiziert mit den auf sozialen Fortschritt orientierten Zwecken der beiden implexgeschichtlichen MaschinenbauerInnen. Der Übergang vom vorstellungsbereiten Lesen zum utopischen Denken ist dann fließend. Da machen es die beiden Keimformtheoretiker und Commonisten ihrem Publikum viel einfacher mir ihrer Sprache, den zusammenfassenden Diagrammen, dem Glossar ihrer zentralen Begriffe und dem insgesamt logischen, vorhersehbaren Aufbau ihrer Darstellung.
“Aufhebung” ist ihnen der Ausweg aus dem transformationstheoretischen Dilemma zwischen Reform und Revolution. Die denken sie zunächst ganz allgemein als “Konstitutionsprozess mit gesellschaftsumformender Potenz” (KA 90f). Inhaltlich wird in diesem Prozess etwas beendet, anderes bewahrt und insgesamt das Neue entwickelt (vgl. KA 81). Diese drei Dimensionen von Aufhebung lassen sich mit Blick auf die Keimformmetapher vielleicht zusammenfassen als Entfaltung. Formal besteht ihnen dieser Konstitutionsprozess aus zwei Teilen: “Ausdehnung im Kapitalismus und gesellschaftlicher Bruch mit Verallgemeinerung in die freie Gesellschaft” (KA 94f) – “hüpfende Schritte” (KA 96). Nachdem mit der Aufhebungstheorie der transformationstheoretische Pfeiler gesteckt ist, folgt der utopietheoretische Pfeiler – es muss um eine “kategoriale” Utopietheorie gehen, (damit meinen sie eine, die aus individual- und gesellschaftstheoretischen Überlegungen heraus begründet ist). Konsequenterweise widmen sie das nächste Kapitel einer Skizze ihrer miteinander im Bezug stehenden Individual- und Gesellschaftstheorie. Auf diesen vier Pfeilern (Aufhebungs-, Utopie-, Individual- und Gesellschaftstheorie) präsentieren sie die eigentlichen Kernstücke ihrer Arbeit: Erstens ihre utopietheoretische Konkretion, den Commonismus, und zweitens ihre konkrete aufhebungstheoretische Transformationsvorstellung, die Keimformtheorie.
Freiheit und Inklusion bilden die zentralen Begriffe und gleichzeitig Mechanismen des Commonismus bei Sutterlütti und Meretz. Analytisch bauen sie – dem Transformationsproblem angemessen – auf drei im individual- und gesellschaftstheoretischen Kapitel erarbeiteten Ebenen auf und betrachten je personale, inter-personale und trans-personale Verhältnisse. Freiwilligkeit und kollektive Verfügung skizzieren sie als die Grundlagen des utopischen Vermittlungsmodus’, des “Commoning”. Dabei verschieben sie gewohnte Begrifflichkeiten wie etwa Produktion und Reproduktion in Begriffsbildungen wie “Herstellung*” und “Re/Produktion” (KA 166f), um den qualitativ anderen Vermittlungsverhältnissen gerecht zu werden, die die Gegenstände konstituiert, die sie mit den Begriffe zu fassen versuchen. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber gut, um die transkapitalistische Vorstellungskraft zu unterstützen und wachzuhalten. Die Grundlagen “commonistischer Stigmergie” (KA 175ff) stellen sie dar und betonen ihre Bedeutung als wichtige Koordinierungspraxis jenseits von Markt und Plan. Diese konkrete und anschauliche Skizze einer kategorialen Utopie, des Commonismus, ist eine hervorhebenswerte Leistung von “Kapitalismus aufheben”.
Zur Darstellung der Keimformtheorie und um “Begriffe für einen qualitativen Wandel zu finden” (KA 202) lehnen sie sich an einen Fünfschritt an, wie er von Klaus Holzkamp, dem Mitbegründer der Kritischen Psychologie, geprägt wurde (vgl. Abb. 10). Die entscheidende Schwelle bildet der Dominanzwechsel auf gesellschaftlicher (“transpersonaler”) Ebene. Bedingungen und Möglichkeiten hierfür theoretisieren sie nicht, sondern versuchen eine Annäherung über “Szenarien” (vgl. KA 223ff). Damit schließen sie quasi an die Dath/Kirchner’sche Programmatik an, indem sie auf die Frage nach dem “Wie?” der Entstehung einer neuen Gesellschaftsform aus der alten antworten:
Eine neue Gesellschaftsform fällt nicht vom Himmel, sondern muss sich aus der alten Gesellschaft entwickeln. … Das Neue ist schon im Alten zu finden, jedoch noch in einer unentfalteten Form, eingepasst in die alten Verhältnisse. Und doch trägt diese unentfaltete Keimform die Qualität in sich, aus der sich eine neue Gesellschaftsform entwickeln kann.” (KA 201)
Sutterlütti und Meretz beenden ihren transformationstheoretischen Versuch mit einem praxisorientierten Schwenk ins Hier-und-Jetzt: Auf vergleichbarem Abstraktionsniveau wie das abschließende “Programm” im Implex drehen sich ihre Überlegungen zur Praxis im keimförmig-transformativen Konstitutionsprozess um Kriterien wie “Aufhebungsbezug”, “Freiwilligkeit”, “Verfügung”, “Grenzen und Ausschluss” und offenere Probleme wie “Normen und Lernräume”, “Funktion der Gefühle”, “neue Beziehungsweisen”. Sie schlagen damit den Bogen zurück zu ihrem utopietheoretischen Teil, dem Commonismus.
Update 3.9.18: Eine erste Reaktion auf diese Rezension bestand in Hinweisen auf das Debattenumfeld von “Kapitalismus aufheben”. Wer also weiterlesen will, dem oder der seien Frederike Habermanns “Ecommony” (2016) sowie Bini Adamczaks “Beziehungsweise Revolution” (2017) (1,2) und die durch die Buchentstehung angeregten Beiträge von Benni Bärmann auf keimform.de empfohlen. Vielen Dank!
[…] Also “Weiter so!” trotz fragwürdiger datenschutz– (S. 124ff) und vergaberechtlicher Bedingungen und unberechenbarer und damit für jede Kalkulation riskanter Lizenzpolitik? Greift der Vorwurf: “Behörden ignorieren Sicherheitsbedenken gegenüber Windows 10“? Mal ganz abgesehen von der politischen Forderung der Kampagne “Public Money – Public Code!”, die lieber Menschen fördern will statt Monopolkonzerne. Darüber hinaus wünschenswert wäre eine sozialistische Technopolitik, die die Produktion digitaler Güter auf die Basis von Kooperation stellen will statt auf die der Konkurrenz. Ein interessanter Strang gegenwärtiger utopie- und transformationstheoretischer Debatte imaginiert dies unter Imaginationen wie Commonismus, Keimform, Implex und Ecommony. […]