Mit Post vom 17.7.2015 war das 5. EU-ExpertInnenGespräch angekündigt und es ist so gut gelaufen, dass eine kleine Information angeraten ist. Die Auswertung wird noch viel Arbeit und Zeit erfordern, aber ein Blick auf den Blog zum Projekt wird sicher Appetit „auf mehr“ machen. Erst recht, weil die aktuelle Blog-Seite zum Video der Lecture mit James Galbraith führt. Diese wiederum hat es in sich.
Schon das öffentliche Gespräch vor dem Workshop war motivierend, denn Mònica Clua-Losada aus Spanien, Claude Serfati aus Frankreich, Aleksander Kravchuk und Zakhar Popoyvich aus der Ukraine sind sofort miteinander in das Gespräch gekommen. Sie haben zwei Defizite der Linken ausgemacht: eine klare Positionierung zur Europäischen Union und die zielgerichtete Suche nach Wegen und Formen zur Organisation von linker Gegen- bzw. Gestaltungsmacht, vor allem von gemeinsamer Gegen- und Gestaltungsmacht.
Das Workshop-Projekt selbst bot schon in seinen Anfangsphasen reichlich Stoff zum Nachdenken, Studieren und Diskutieren. Die Gäste waren seit Monaten um Antworten auf folgende vier themen- und länderbezogene Fragen gebeten: 1) Was hat sich seit dem offenen Ausbruch der globalen Finanzkrise warum verändert? 2) Was sind die relevanten Auswirkungen dieser Veränderungen? 3) Gab es andere Entwicklungsmöglichkeiten und warum wurden sie nicht realisiert? 4) Welche EU-Entwicklungsszenarios sind für die nächsten 10-15 Jahre unter welchen Bedingungen möglich?
Es ging uns als OrganisatorInnen des Workshops zum einen um eine „Inventur“ von realen Entwicklungen, EU-Krisenmanagement, linken Strategien und eigener Arbeit. Zum anderen wollten wir Zäsuren und Szenarien diskutieren, um Entwicklungen besser zu verstehen, wirksamer beeinflussen und künftig bestimmen zu können.
Der Workshop bestand aus fünf Blöcken: Der erste Block adressierte die gegenwärtige Situation – dass die EU ein aggressiver europäischer und globaler Akteur ist; dass die Bankkrise und das Flüchtlingsproblem außerhalb der EU-Verträge behandelt wurden bzw. werden; dass der „Fall Griechenland“ sogar im teilweisen Gegensatz zu den EU-Verträgen „bearbeitet“ wird, dass die griechische Bevölkerung unter einer transnationalen hierarchischen Unterordnung leidet und um elementare Rechte gebracht ist. In diesem Block lieferten Kees van der Pijl, James Galbraith, Bernd Kasparek, Helmuth Markov und Judith Dellheim die Diskussionsgrundlage. Der zweite Block hat sich mit zwei sehr unterschiedlichen Fallbeispielen für Austeritätspolitik und für die Auseinandersetzung mit dieser Politik befasst: mit Griechenland und dem Vereinigten Königreich. Dabei interessierte auch und insbesondere die Rolle sozialdemokratischer Parteien. Leonidas Vatikiotis und Jan Toporowki sorgten für die entsprechenden Analysen. Im dritten Block wurden Strukturprobleme von Gemeinschaftspolitiken und koordinierten Politiken in der EU diskutiert. Claude Serfati (zur Verteidigungspolitik), Mathis Heinrich (zur EZB), Georgi Medarov (zur Agrarpolitik), Zoltán Pogatsa (zum Vergleich Griechenland – MOE-Staaten), Aleksander Kravchuk und Zakhar Popoyvich (zur Ukraine als größtes und strategisch wichtigstes Land der Östlichen Partnerschaft) legten sehr konkrete Ausarbeitungen vor. Gemeinsam mit Vatikiotis und Toporowski halfen sie erklären, dass und warum die Entwicklung in der EU und der EU nicht nachhaltig ist. Der vierte Block diskutierte relevante Fragen der sozialen Reproduktion, die zwar individuelles und gesellschaftliches Leben und die Reproduktion von Machtverhältnissen prägen, jedoch von ÖkonomInnen meist außer Acht gelassen bzw. nicht notwendig analysiert werden. Erika Feyerabend (zur Biopolitik/Reproduktionsmedizin), Joachim Spangenberg (zur Ökologie) und wiederum Judith Dellheim (zu Medien) gaben die Einführung zur Diskussion. Im fünften Block ging es um die Formulierung von Fragen für die weitere Forschung und von Schlussfolgerungen für die Arbeit der Linken. Mònica Clua-Losada hat deren Handlungsbedingungen und Organisationsformen in Spanien exemplarisch analysiert. In der Diskussion wurde deutlich, dass die Linken die Verkomplizierung ihrer Handlungsbedingungen durch die neue Unionsmethode unzulänglich reflektieren und noch nicht zielgerichtet auf wirksame linke Politik auf EU-Ebene hinarbeiten. Für die durchgängig gelungen strukturierte Diskussion und ihre Reflektion waren die Beiträge von Frieder Otto Wolf und Lutz Brangsch von außerordentlich hohem Stellenwert.
Warum interessierten und interessieren Szenarios künftiger Entwicklung? Die Antwort besteht aus vier Komponenten: um besser zu verstehen, wie gesellschaftliche Entwicklung in ihren Stoffwechsel-Prozessen mit der Natur erfolgt; um sich die eigene gesellschaftliche Realität komplexer zu vergegenwärtigen und mögliche Entwicklungen zu erfassen; um negative Entwicklungen verhindern bzw. ihnen zunehmend offensiv begegnen zu können; um Handlungsmöglichkeiten – um die Gesellschaft demokratisch, gerecht, solidarisch zu verändern, sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung zu erwirken – aufzuspüren, zu erweitern, zu nutzen. „Mögliche Entwicklungen“ resultieren aus wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Bedingungen und aus der Auseinandersetzung der Akteuren mit diesen Bedingungen. Die individuellen und kollektiven Akteure haben Interessen, bewegen sich in komplizierten Macht- und Geschlechterverhältnissen, hängen besonderen Ideologien an. Was als „mögliche Entwicklung” gesehen wird, hat mit eben diesen Ideologien und wissenschaftlicher Arbeit zu tun – mit der Analyse historischer Prozesse und mit deren wissenschaftlicher Reflektion und so mit Geschichte und mit Wissenschaftsgeschichte.
Es liegt „in der Natur der Sache“, dass die Workshop-TeilnehmerInnen die neoliberale Entwicklung der EU besonders interessierte. Diese ist wesentlich mit der Entwicklung des Finanzkapitals als gesellschaftliches Machtverhältnis und mit der Bewegung von Kapitaloligarchien verbunden. Hier gibt es einen Dissens z. B. zu Kees van der Pijl, der dem Geld verleihenden Kapital das Primat in den gesellschaftlichen Machtverhältnissen einräumt. Allerdings kann Finanzialisierung als besondere Form der Vergesellschaftung nur mit Hochtechnologien funktionieren und diese müssen produziert sein.
Auf dem Workshop wurde die „EU-Neoliberalisierung“ in ihrem Verlauf und so in ihrer relativen Folgerichtigkeit aufgezeigt. Dabei wurde insbesondere diskutiert, wo Möglichkeiten bestanden haben, mit relevanten Problemen anders umzugehen als es die Herrschenden getan haben. So hätten gesellschaftliche Gegensätze, soziale und ökologische Probleme nicht bzw. nicht in dieser Dimension weiter wachsen müssen. Die Möglichkeiten blieben theoretisch, weil die Linken zu schwach waren, um sie zu nutzen. So steht die Einleitung transformativer Prozesse in gewachsener/wachsender Ferne. Um einen kleinen Beitrag dafür zu leisten, dies zu verändern, wurde der Workshop organisiert. Eine ihn auswertende Publikation soll zur europäischen Strategiekonferenz im Frühjahr 2016 vorliegen.
RT @ifg_rls: Kleine Nachbetrachtung: Mit Post vom 17.7.2015 war das 5. EU-ExpertInnenGespräch angekündigt und es ist so… t.co/lsT…