Am Freitag hat SYRIZA sein Wirtschaftsprogramm vorgestellt. Dazu wird mehring1 in Kürze mehr “verraten”. Hier soll nun ein Aufruf von Etienne BALIBAR, Philosoph, Vicky SKOUMBI, Chefredakteurin der Zeitschrift ALETHEIA (Athene) und Michel VAKALOULIS, Philosoph und Soziologe, zur europäischen Unterstützung für SYRIZA vorgestellt werden. Dieser kann nunmehr hier unterzeichnet werden:
Es ist allgemein bekannt, dass die Parteien, die in Griechenland seit 1974 an der Macht sind, für die Kette der Ereignisse, die das Land in drei Jahren in den Abgrund gestürzt haben, die Hauptverantwortung tragen. Die rechte Nea Demokratia und die sozialdemokratische PASOK haben nicht nur das System aus Korruption und Privilegien aufrechterhalten, sie haben auch selbst davon profitiert und dafür gesorgt, dass die Lieferanten und die Gläubiger Griechenlands in großem Maßstab begünstigt wurden, während die Experten der europäischen Institutionen die Augen verschlossen. Unter diesen Voraussetzungen ist es erstaunlich, dass sich die führenden europäischen Kräfte oder auch der IWF, die sich zu Vorbildern und Vorkämpfern für Tugend und Strenge stilisiert haben, große Mühe geben, diese bankrotten und diskreditierten Parteien wieder an die Macht zu bringen, indem sie vor der „roten Gefahr“ warnen, wie sie angeblich von SYRIZA (dem Parteienbündnis der radikalen Linken) verkörpert wird, und indem sie damit drohen, jegliche finanzielle Unterstützung einzustellen, falls die Neuwahlen am 17. Juni die Ablehnung des „Memorandums“ bestätigen, die schon am 6. Mai deutlich wurde. Diese Einmischung in die inneren Angelegenheiten steht nicht nur in offenem Widerspruch zu den elementarsten Regeln der Demokratie, sie hätte auch dramatische Konsequenzen für unsere gemeinsame Zukunft.
Das allein wäre bereits ein hinreichender Grund für uns als Bürgerinnen und Bürger Europas, nicht zuzulassen, dass der Wille des griechischen Volkes erstickt wird. Doch es gibt Gründe, die noch schwerer wiegen. Seit zwei Jahren arbeiten die führenden Kräfte der Europäischen Union – in enger Abstimmung mit dem IWF – daran, das griechische Volk seiner Souveränität zu berauben. Unter dem Vorwand, die öffentlichen Finanzen zu sanieren und die Wirtschaft zu modernisieren, setzten sie eine drakonische Austeritätspolitik durch, die jede wirtschaftliche Aktivität erstickt, die Mehrheit der Bevölkerung zur Verelendung verdammt und Arbeitnehmerrechte beseitigt. Dieses „Konsolidierungs“-Programm neoliberaler Machart führte zu einem Einbruch der Produktion und zu Massenerwerbslosigkeit. Die Durchsetzung dieses Programms erforderte nichts weniger als einen Ausnahmezustand, wie ihn Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hat: Der Staatshaushalt wird von der Troika diktiert, das griechische Parlament zu einer Vollstreckungsbehörde degradiert und die Verfassung mehrfach umgangen. Der Niedergang des Prinzips der Volkssouveränität geht dabei Hand in Hand mit der Erniedrigung eines ganzen Landes. Dieser Prozess erreicht zwar in Griechenland einen Höhepunkt, doch es geht nicht ausschließlich um Griechenland. In allen Mitgliedsländern der Europäischen Union werden die Menschen vollkommen ignoriert, wenn es darum geht, eine Austeritätspolitik durchzusetzen, die jeder ökonomischen Rationalität zuwiderläuft, oder darum, die Eingriffe des IWF oder der EZB zugunsten des Banksystems miteinander zu kombinieren bzw. Regierungen aus nichtgewählten Technokraten durchzusetzen.
Schon mehrfach haben die Griechen deutlich gemacht, dass sie eine Politik ablehnen, die ihr Land zerstört, indem sie es zu retten vorgibt. Durch zahllose Massendemonstrationen, Generalstreiks an 17 Tagen in zwei Jahren, unzählige Akte zivilen Ungehorsams und die Bewegung der Empörten auf dem Syntagma-Platz haben sie ihre Weigerung, das ihnen ohne jede Konsultation auferlegte Geschick hinzunehmen, zum Ausdruck gebracht. Das war die Stimme der Verzweiflung und der Rebellion – und welche Reaktion erfolgte? Eine Verdopplung der ohnehin schon tödlichen Dosis und eine Ausweitung der Repression durch die Polizei! Schließlich erschien – angesichts des vollständigen Legitimitätsverlusts der Regierenden – die Rückkehr zu den Wahlurnen als das einzig noch verfügbare Mittel, eine gesellschaftliche Explosion zu vermeiden.
Aber jetzt ist die Situation vollkommen klar: Die Wahlergebnisse des 6. Mai lassen keinen Zweifel daran, dass die von der Troika durchgesetzte Politik auf massive Ablehnung stößt. Angesichts eines wahrscheinlichen Sieges von SYRIZA bei den Wahlen am 17. Juni wurde eine Desinformations- und Einschüchterungskampagne gestartet, sowohl im Inneren des Landes als auch auf europäischer Ebene. Sie verfolgt das Ziel, SYRIZA aus dem Kreis der vertrauenswürdigen politischen Gesprächspartner auszugrenzen. Alle Mittel werden bemüht, SYRIZA zu disqualifizieren – was mit der Etikettierung als „extremistisch“ und der Gleichsetzung mit den Neonazis von der „Goldenen Morgenröte“ beginnt. Alle Fehler und Mängel werden SYRIZA zugeschrieben: Betrug, Doppelzüngigkeit, Verantwortungslosigkeit und eine infantile Forderungsmentalität. Wenn man dieser hasserfüllten Propaganda, die sich an die rassistische Stigmatisierung des griechischen Volkes anschließt, Glauben schenkte, würde SYRIZA die Freiheitsrechte, die Weltwirtschaft und die europäische Integration gefährden. Und die griechische Wählerschaft und unsere führenden Kräfte hätten die gemeinsame Verantwortung, SYRIZA sofort aufzuhalten. Durch die Drohung mit dem Ausschluss aus der Gruppe der Euroländer und andere wirtschaftliche Erpressungsmanöver wird eine Manipulation des Wahlverhaltens eines Volkes in Gang gesetzt. Mithilfe einer „Schockstrategie“ bemühen sich die herrschenden Gruppen darum, das Wahlverhalten des griechischen Volkes gemäß ihren eigenen Interessen zu beeinflussen, von denen sie zugleich behaupten, dass sie auch unsere Interessen seien.
Die Unterzeichner dieses Aufrufs sind nicht bereit zu schweigen angesichts des Versuchs, ein europäisches Volk seiner Souveränität zu berauben, für deren Erhalt die Wahlen das letzte Mittel sind. Wir fordern, dass die Stigmatisierungskampagne gegen SYRIZA und die Erpressungsversuche mit einem angedrohten Ausschluss aus der Eurozone sofort eingestellt werden. Das griechische Volk muss über sein Schicksal selbst entscheiden, unter Zurückweisung jedes Diktats. Es muss, unter Zurückweisung der giftigen „Medizin“, die ihm seine angeblichen „Retter“ verabreichen, frei und gemeinsam mit den anderen Völkern Europas die Formen der Zusammenarbeit entwickeln, die zur Überwindung der Krise nötig sind.
Wir erklären unsererseits, dass es an der Zeit ist, dass Europa das Signal wahrnimmt, das es am 6. Mai von Athen empfangen hat. Es ist an der Zeit, eine Politik aufzugeben, die – nur um Banken zu retten – die Gesellschaft ruiniert und die Bevölkerung eines Landes unter Vormundschaft stellt. Es ist dringend notwendig, dem selbstmörderischen Kurs einer politischen und ökonomischen Konstruktion Einhalt zu gebieten, durch die die Regierung „Experten“ übertragen und die Allmacht der Finanzjongleure institutionalisiert wird. Europa muss das Werk seiner Bürgerinnen und Bürger selbst sein und ihren Interessen dienen.
Dieses neue Europa, wie wir es uns – genau wie die demokratischen Kräfte, die in Griechenland entstanden sind – so dringlich wünschen und für das wir bereit sind zu kämpfen, wird ein Europa aller seiner Völker sein. In jedem Land stehen sich heute zwei Ideen von Europa gegenüber, die durch politische und moralische Gegensätze geprägt sind: ein Europa der Enteignung der Menschen zugunsten des Profits der Bankeigentümer und ein Europa, das das Recht aller auf ein Leben garantiert, das diesen Namen verdient, und das sich als Gemeinschaft die Mittel dafür verschafft.
Ebenso wie die griechischen Wählerinnen und Wähler sowie die Mitglieder und die Führung von SYRIZA wollen wir keineswegs, dass Europa verschwindet, sondern dass es neu gegründet wird. Der Ultraliberalismus ist für das Aufkommen von Nationalismus und den Aufstieg der extremen Rechten verantwortlich. Die wahren Retter der europäischen Idee sind all diejenigen, die dafür eintreten, dass sich Europa öffnet und die Bürgerinnen und Bürger sich beteiligen können, und die ein Europa vertreten, in dem die Volkssouveränität nicht abgeschafft, sondern ausgeweitet und geteilt wird.
In Athen geht es in der Tat um die Zukunft der Demokratie in Europa und um Europa selbst. Aufgrund einer seltsamen Ironie der Geschichte stehen heute die verarmten und stigmatisierten Griechen in unserem Kampf für eine gemeinsame Zukunft in der ersten Reihe.
Die Gelder müssen von der EZB direkt an die Länder vergeben werden, zu den Zinsen, die die Banken zahlen. Dann können die Länder sie auch bezahlen….