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Das Thementeam „Soziales Wachstum“ an der Friedrich-Ebert-Stiftung will „ein Wachstumsmodell … entwickeln, das Wohlstand für alle mit Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit verbindet“. Es soll „primär für Deutschland, aber auch für Europa und global anwendbar sein“ (S.3). Ihre dazu im November vorgelegte Studie versteht das Team als einen Beitrag zum „Leitbild einer fortschrittlichen Wirtschaftspolitik“.
„Fortschrittliche Wirtschaftspolitik“ müsse „die wirtschaftliche und soziale Krise durch ein soziales, also gerechter strukturiertes Wachstum … überwinden.“ (S. 3) Das „soziale Wachstum“ müsse „den Märkten nicht nur in Europa, sondern auch global wieder Leitplanken setzen, die ihre Wirkungsmacht in gesellschaftlich wünschenswerte Bahnen lenken.“ (S. 3-4)

Wann hat es in Deutschland, in Europa und global „den Märkten gesetzte Leitplanken“ gegeben, die die „Wirkungsmacht“ der Märkte „in gesellschaftlich wünschenswerte Bahnen gelenkt“ haben? Wer bestimmt, was diese „gesellschaftlich wünschenswerte Bahnen“ bedeuten? Wer sind die Akteure auf und hinter den Märkten und wie wirken sie auf die gesellschaftliche Entwicklung? Unter welchen Bedingungen ist „Wachstum“ sozial und global verantwortungsvoll?
Derartige Fragen werden in der Studie nicht oder nur kaum und inkonsequent gestellt. Weil dies so ist, bleibt auch die Frage nach den Akteuren der „fortschrittlichen Wirtschaftspolitik“ marginalisiert. Es wird vorausgesetzt, dass dies vor allem DER STAAT bzw. EU-Institutionen seien.
„Markt“ und „Staat“ werden gegenübergestellt und zwischen „marktgesteuertem“ und „sozialem Wachstum“ unterschieden. Ergo: „soziales Wachstum“ setzt einen „starken Staat“ voraus. Allerdings wird neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik immer über einen starken Staat realisiert. Wie anders soll die Wirtschafts- und Währungsunion zustande gekommen sein und erhalten werden können? Wie anders wären der Binnenmarkt und nicht zuletzt die Finanzmärkte so expandiert?

Diese Kritik an der Studie bedeuten keinesfalls, dass die Aussagen zu „guter Arbeit“, „sozialer Produktivität“ und „sozialen Investitionen“ nicht in Vielem unterstützenswert wären. Jedoch ist die Hoffnung auf eine BIP-Steigerung in Deutschland dank überwiegender Ausdehnung der Humandienstleistungen doppelt problematisch: Erstens ist der industriegesellschaftliche Alltag in unserem Land zwarmit weniger Exportfixiertheit und mehr Importen stofflicher Waren denkbar, aber auch so werden nicht zwangsläufig die Stoff- und Energieumsätze in Deutschland und Europa drastisch reduziert, schon gar nicht in gebotener Dimension. Zweitens wächst das BIP durch marktorientierte Arbeiten, die dann insbesondere am Markt gehandelte Humandienstleistungen wären. Das droht, gesellschaftliche Probleme zu reproduzieren oder sogar zu mehren. Das könnte auch dann zutreffen, wenn die staatlich gesteuerte Nachfrage schneller wachsen würde als jene, die über den Finanzsektor bzw. die Finanzmärkte gesteuert wird.
Die beiden Probleme würden auch nicht automatisch dadurch gelöst, dass „bestimmte gesellschaftliche Bedarfe durch ein staatliches Angebot“ gedeckt würden (S. 16). Sie würden auch bei Umsetzung folgender Schlussfolgerung nicht unbedingt gemildert: „Der Staat sollte … versuchen, im Rahmen einer nachhaltigen Industrie- und Strukturpolitik Investitionen und Kapitalströme in zukunftsweisende, fortschrittliche Verwendungen zu lenken, die den größten gesellschaftlichen Nutzen bieten. Gleichzeitig sollte er den unvermeidlichen Strukturwandel nicht aufhalten, sondern die notwendigen ökologischen, ökonomischen und sozialen Anpassungsprozesse gesellschaftspolitisch begleiten. Dabei geht an einer ressourcen-, klima- und umweltschonenden Organisation der Produktion und des Konsums in Zukunft kein Weg vorbei.“ (S. 16) Auch nicht an der Koordinierung der Wirtschaftspolitiken „in Europa“.
Kurzfristig dränge die Überwindung der Schuldenkrise, die mit einer strukturellen Neuregulierung der Finanzmärkte einhergehen müsse, wofür vor allem „die enge Zusammenarbeit der nationalen Regierungen und der Aufbau effektive supranationaler wirtschaftspolitischer Regulierungs- und Steuerungsstrukturen erforderlich“ sei (S. 18).

Die Frage nach den eigenen Handlungsmöglichkeiten unter den Bedingungen gesellschaftspolitischer Minderheitenposition wird vom Themen-Team nicht gestellt. Diese Feststellung polemisiert nicht gegen die FES-Aussage, dass eine substantielle Entschuldung unumgänglich sei und drei Wege kombinieren müsse: den „Schulden-  und Vermögensschnitt“, die „Ausgabenüberschüsse der Gläubiger“, „eine deutlich höhere, aber noch kontrollierte Inflation (etwa vier bis sechs Prozent per anno)“ (S. 18). Sie polemisiert auch nicht gegen die Forderung, „die Finanzmärkte so zu regulieren, dass keine Vermögensblasen mehr entstehen“ (S. 19).

Mit dem Blick auf „Szenarien für ein soziales Deutschland“ hatte die FES drei große Studien in Auftrag gegeben (S. 19-20). Diese werfen allerdings wiederum nicht die Frage nach den eigenen Handlungsmöglichkeiten unter den Bedingungen gesellschaftspolitischer Minderheitenposition auf. Das gilt erst recht angesichts der Aussage, dass „sich“ die Verbrauchs- und Produktionsstrukturen verändern müssten (S. 20), und angesichts der so wichtigen Aussage zu den Verteilungsverhältnissen und Investitionen: „Die Einkommen ärmerer Menschen sollten schneller wachsen; Investitionen, die mittelfristig Ressourcen sparen, sollten zunehmen; soziale Dienstleistungen sollten wachsen, da sie gesellschaftliche Bedarfe abdecken und meist auch wenig ressourcenintensiv sind. (Spangenberg/Lorek 2003)“ [S. 21].

Dass die Frage nach den  eigenen Handlungsmöglichkeiten unter den Bedingungen gesellschaftspolitischer Minderheitenposition nicht gestellt wird, verwundert umso mehr da das Team meint, dass „der Erfolg nationaler Entwicklungspfade auch durch eine kooperative globale Wirtschafts- und Strukturpolitik gesichert werden“ (S. 21) müsse.
In diesem Kontext wird jedoch auch seitens der FES erkannt, dass „eine politische Debatte über ein modernes Staatsverständnis zu führen“ sei (S. 21) – erst recht wegen der „Euro-Problematik“. Schließlich müsse eine „Stärkung marktkorrigierender und gestaltender Politikinstrumente“ letztlich „mehr Europa“ (S. 21) bedeuten.
Damit würde „mehr Europa“ gebraucht, um ein „neues Entwicklungsmodell“ realisieren zu können, das in allen Nationen den ökologischen Umbau der Volkswirtschaften mit mehr Verteilungsgerechtigkeit verbindet (Netzer 2011). Für die globale Ebene bedeutet dies, dass die unterentwickelten Länder darin unterstützt werden müssen, neue Wachstumspfade zu erschließen, die vier Bereiche berücksichtigen:
(1) ökologisches Wachstum mit dem Schwerpunkt der CO2-Reduzierung;
(2) sozial nachhaltiges Wachstum, das Arbeitsplätze schafft;
(3) stetiges Wachstum, das nicht mehr der Volatilität der Kapitalmärkte unterworfen ist;
(4) regionales Wachstum durch regionale Integration und eine vertiefte regionale Infrastruktur.
Dazu sind sowohl die Krise der Regulierung (mit Blick auf die Banken) als auch die Krise der Global Economic Governance (mit Blick auf die globalen Ungleichgewichte) zu lösen.“ (S. 22)

Dazu wäre vor allem die Politik der Bundesrepublik, der EU und der anderen globalen Großmächte zu verändern. Schließlich sind Freihandelsabkommen tödlich für lokale Lebensmittelproduzenten.
Es gibt aber im FES-Text keine fundierten Aussagen zur Agrarpolitik und zu wirklich solidarischer Entwicklungspolitik. Solidarität, „die Etablierung einer Solidaritätskultur“ (S. 33) wird auf die nationale Ebene und auf die Europäische Union – besser: auf die Wirtschafts- und Währungsunion – reduziert. Dabei sind die Ideen „von einem Euro-Solidaritätsbeitrag bis hin zu einem institutionalisierten europäischen Länderfinanzausgleich (S. 33) durchaus interessant. Allerdings nicht um – wie die FES vorschlägt –  „eine Politik des sozialen Wachstums“ zu betreiben, sondern um nachhaltig soziale und ökologische Zerstörung zu bekämpfen, solidarisch Produktions- und Konsumtionsstrukturen, Produktions-, Konsumtions- und Lebensweisen umzubauen.

Eine „fortschrittliche Wirtschaftspolitik … sollte … als Kern folgendes Zehnpunkteprogramm haben:
(1) mit effektiver Finanzmarktregulierung eine stabile Kreditversorgung garantieren;
(2) mit Bildungspolitik die Wachstumskräfte und die Teilhabechancen aller stärken;
(3) mit Industrie- und Dienstleistungspolitik neue Wachstumsfelder erschließen;
(4) mit Mindestlohn und Mitbestimmung die Stellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärken;
(5) mit reformierter Steuerpolitik öffentliche Aufgaben gerecht und solide finanzieren;
(6) mit antizyklischer Fiskalpolitik Konjunktur und Verschuldung stabilisieren;
(7) mit einer robusten öffentlichen Finanzarchitektur die Wachstumskräfte für Europa stärken;
(8) mit wirtschaftspolitischer Koordinierung für mehr Stabilität in der Eurozone sorgen;
(9) mit europäischen und globalen Standards Gute Arbeit für alle sichern;
(10) mit einer neuen Wirtschafts- und Währungsordnung die Globalisierung steuern.“ (S. 5).
Demnach ist „fortschrittliche Wirtschaftspolitik“  staats- bzw. verwaltungsfixiert, auf nachhaltiges Wachstum auf den verschiedenen Ebenen fokussierend. Sie würde staatliche Planung erfordern.

„Fortschrittliche Wirtschaftspolitik“ im FES-Verständnis orientiert nicht die Menschen als Individuen und in Kollektiven auf eine Gesellschaft der individuell Freien und sozial Gleichen, die selbstbestimmt, solidarisch miteinander und in Verantwortung mit der Natur leben. Sie orientiert die Menschen nicht darauf, unentwegt nach Handlungsmöglichkeiten zu suchen, um Armut, soziale Ausgrenzung, soziale und globale Spaltungen, Konkurrenzzwänge und Gewalt gegen Menschen, Diskriminierung, Repression und Überwachung, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, Militarisierung und Krieg nachhaltig zu bekämpfen. Schon gar nicht orientiert die “fortschrittliche Wirtschaftspolitik” die Menschen darauf, das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben umzuwälzen.

In den dafür notwendigen sozialen Kämpfen geht es selbstverständlich auch und insbesondere um
–     Die Schrumpfung und Regulierung der Finanzmärkte und um stabile Kreditversorgung
–     Um Bildung, gesundheitliche Betreuung, um Pflege, Kultur, um die Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben in Würde
–     Um eine Struktur-, Industrie-, Regional-, Agrar-, Handels und Entwicklungspolitik pro sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung
–     Um soziale, ökologische und demokratische Mindeststandards, um selbstbestimmt, gesund und in gesundender/gesunder Natur leben und an den Entscheidungen/an der Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklung aktiv mitwirken zu können
–     Um eine drastische Reduzierung der Stoff- und Energieumsätze, der Verschmutzung von Luft, Wasser, Böden, Ökosystemen, um ein Stopp schwindender biologischer Vielfalt und die beginnende Gesundung der natürlichen Lebensgrundlagen                                                                          –     Um eine Steuerpolitik, die bei garantierten armutsfesten Einkommen direkt proportional Vermögen, Einkommen, Umweltverschmutzung und den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen belastet
–     Um eine Finanzpolitik, die öffentliche Finanzen für sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung nachhaltig sichert
–     Um eine Ressourcen-, Gesellschafts- und Außenpolitik, die Schwächere nicht bedrohen, Repression, Militarisierung und Kriege schrittweise und nachhaltig abbauen und letztendlich überwinden (wollen).

Und selbstverständlich geht es auch darum, Druck auf Parlamente, Verwaltungen, Regierungen, Institutionen aufzumachen, um parlamentarische, staatliche und Verwaltungsinstrumente und Handlungsmöglichkeiten zu nutzen – aber nicht nur und nicht vorrangig. Vorrangig geht es um das Ringen um Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen, um individuelle und kollektive Handlungsmöglichkeiten, um zunehmend selbstbestimmt, solidarisch – vor allem mit den sozial und global Schwächsten – und ökologisch vernünftig leben zu können. Damit werden Frauen und Männer, die selbstbestimmt leben und solidarisch handeln wollen, zu Akteuren fortschrittlicher, sozialistischer Wirtschaftspolitik.

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