Zentralasien wird heute meist als Krisenregion wahrgenommen und kaum mit innovativen linken Politiken in Verbindung gebracht. Gerade ist im Metropol-Verlag die (Teil)Übersetzung eines interessanten Buches erschienen, das „Konzepte des Sowjetischen“ in Zentralasien behandelt und dieses Vorurteil erschüttern könnte. Das Original erschien im Jahr 2016 in Bischkek, der Hauptstadt Kirgisiens. Es fasste die Ergebnisse eines Projektes zusammen, an dem die NGO Shtab über mehrere Jahre gearbeitet hatte. Ursprünglich ging es, so schreiben die Herausgeber*innen im Vorwort der Originalausgabe, darum zu bestimmen, was heute eine linke Agenda in Zentralasien sein könnte. Es zeigte sich, dass man dabei nicht um eine Positionierung zum Sowjetischen nicht herumkommen würde. Insbesondere ging es ihnen darum zu ergründen, in welchem Maße die heutigen Vorstellungen von Geschlechterbeziehungen, zum Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung, zum Arbeitsrecht oder zum Internationalismus dem Sowjetischen entsprechen oder nicht. Welchen Platz sollte das sowjetische Erbe in einem postsowjetischen linken Projekt einnehmen? Lohnt es sich für Linke, die Reste sowjetischer Sozialstaatlichkeit zu verteidigen – oder sollten sie alles tun, um im gesellschaftlichen Bewußtsein nicht mit dem sowjetischen Sozialismus in Verbindung gebracht zu werden? Bini Adamczak hebt in ihrem Vorwort zur deutschsprachigen Übersetzung gerade diesen „immanenten“ Charakter der hier entwickelten Kritik des Sowjetischen, die eben nicht „scheinbar über den Dingen schwebt“, hervor. Alle diese Fragen wurden Gegenstand mehrerer Publikationen, die die Ergebnisse der Debatten zusammenfassten. Sie trugen die Titel „Die Zukunft zurückgeben“ und „Das utopische Bischkek“. Die entsprechende Website ist leider nicht mehr zu erreichen, die Publikationen sind aber an anderen Stellen, allerdings in russischer Sprache, zu finden.
Die Geschichte des Projekts
Der nun übersetzte dritte Band dieser Reihe mit dem Titel „Konzepte des Sowjetischen in Zentralasien“ basiert auf den Materialien dreier internationaler Treffen, die 2014 bis 2016 stattfanden. Nicht zuletzt ist dieses Buch auch ein Ergebnis der Kooperation von Shtab mit dem Büro Moskau der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Zusammenarbeit begann im Jahr 2014 mit dem Projekt „Die ideologische Verallgemeinerung sozialistischer Erfahrung. Akademische und künstlerische Erforschung der postsowjetischen Städte“. Das Projekt „Die Erforschung des Sowjetischen in Zentralasien“ wurde zu einem der zentralen in der gemeinsamen Arbeit. Es veränderte den Vektor des gewöhnlichen Blicks auf die Geschichte der UdSSR. Einerseits angesichts der Politik der Dekommunisierung und der Kritik der Nationalitätenpolitik der UdSSR, andererseits kritikloser Romantisierung und Nostalgie bezüglich der sowjetischen Vergangenheit stellt dieses Projekt einen Versuch dar, sich in all diesen Erscheinungen zurecht zu finden und eine eigene Sicht auf die Dinge zu entwickeln. So kommt es, dass die im entstandenen Buch abgedruckten Texte so vielfältig sind und sich nicht auf einen gemeinsamen Standpunkt reduzieren lassen. Es umfasst insgesamt vierzehn Artikel in den Abschnitten „Kolonialfrage“, „Geschlechterordnung“ und „Kommunistische Versprechen“. Besonders hervorzuheben ist, dass ökonomische Überlegungen, Beiträge politikwissenschaftlichen Zuschnitts, soziale Fragen und nicht zuletzt kulturelle Aspekte eine geglückte Symbiose eingehen.
Die deutschsprachige Ausgabe
Alle diese Beiträge hätten es verdient, übersetzt zu werden; das hätte aber die vorhandenen Kapazitäten gesprengt. So wurde versucht, besonders prägnante Beiträge auszuwählen, die für Allgemeininteressierte, politische Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen gleichermaßen Wert haben könnten. Die Themen der Übersetzung umfassen Grundsatzfragen der Entwicklung der Region, die Geschlechterverhältnisse, Fragen der Entwicklung von Wirtschaft und Wissenschaft, Veränderungen der Familienbeziehungen und der Umweltpolitik in sowjetischer Zeit. Generell sind die Beiträge gut mit Quellen belegt, z.T. bieten sie Einblicke in Materialen, die bisher bestenfalls in den englischsprachigen Diskursen beachtet wurden. Von besonderem Interesse für die zeitgeschichtliche Forschung dürfte die Publikation des Briefwechsels innerhalb der Frauenabteilung des mittelasiatischen KPdSU-Apparates aus den 1920er Jahren (in dieser Form erstmals nachlesbar) sein.
Die Artikel sind mit zahlreichen Quellenverweisen versehen, die es leicht machen, interessierende Themen weiter zu verfolgen. Für die westeuropäischen Leser*innen wurden zudem zusätzliche Erläuterungen aufgenommen, da sowohl die in der Sowjetunion übliche Begrifflichkeit, wie auch die Geschichte der Region selbst allgemein kaum mehr geläufig sein dürfte. Damit empfiehlt sich das Buch nicht nur für Spezialist*innen, sondern auch für ein breites allgemein-interessiertes Publikum.
Satalova, Oksana/Mamedov, Georgij (Hrsg.) (2021). Verständnis des Sowjetischen in Zentralasien., Berlin: Metropol metropol-verlag.de/produkt/verstaendnis-des-sowjetischen-in-zentralasien/