Vor etwa einem Monat begannen die japanischen Katastrophen 2011. Die menschlichen Tragödien sind unermesslich, die Probleme unfassbar. Die energiepolitische Diskussion in Deutschland läuft auf Hochtouren. Insbesondere am heutigen Montag jagt eine Aktivität in Sachen Energiewende – wer was auch immer darunter versteht – die andere. Für Freitag dieser Woche erwartet Frau Kanzlerin die Bundesländer-Ministerpräsidenten, um vor allem über den schnelleren Ausbau der erneuerbaren Energien zu beraten.
Allerdings meint „erneuerbar“ nicht unbedingt sozial und ökologisch nachhaltig. „Erneuerbare Energien“ müssen keineswegs vorrangig lokal und regional erschlossen und genutzt werden: z. B. war heute Vormittag in Frankfurt am Main Desertec ein großes Thema. In diesem Kontext interessierten die politisch unsicheren Verhältnisse in arabischen bzw. afrikanischen Ländern, die für Europas Versorgung mit Solarstrom relevant sein sollen.
Auch das Centrum für Europäische Politik (cep), der europapolitische Think-Tank der Stiftung Ordnungspolitik (sop), lud zum Pressegespräch „Europäische Energiepolitik nach Fukushima“. Sop sieht sich in der ordnungspolitischen Tradition der Freiburger Schule (Walter Eucken, Friedrich August von Hayek). Man will der „heutigen Wirtschaftspolitik wichtige Leitlinien und Impulse vermitteln“, auf der nationalen Ebene und zunehmend auf der EU-Ebene.
Die cep-Wissenschaftler Götz Reichert und Jan S. Voßwinkel erklärten vier „deutsche Herausforderungen und europäische Perspektiven“. Interessant ist u. a., dass sie dabei die Formulierung „nach der Energiewende“ gebrauchen als wäre mit Fukushima und der Ruhe für sieben alte AKW – zunächst für drei Monate – eine „Energiewende“ gemeistert.
Die vier „Herausforderungen“ sind laut cep: 1. „Sicherheit von Kernkraftwerken“, 2. „Ausbau erneuerbarer Energien“, 3. „Ausbau der Energieinfrastruktur“ und 4. „Steigerung der Energieeffizienz“.
Dahinter verbergen sich hochgefährliche Positionen und ein reales Problem: Es gibt keine starke linke europäische Anti-AKW-Bewegung, ganz zu schweigen von einer europäischen Bewegung für eine solidarische solare Energiewende. Selbst wenn die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland erfolgreich wächst – wofür linkes Engagement gefordert ist – braucht der deutsche Energiemix nicht atomstromfrei zu sein. Selbst ohne AKW in Deutschland würde Euratom weiter gelten. Das ist ein Argument dafür, dass die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland endlich eine europäische Dimension ausprägt und Linke in Europa eine Bürgerinitiative zur Beendigung des Euratom-Vertrages erwirken. Zunächst sollten sie u. a. berücksichtigen, dass noch bis zum 30.4. eine öffentliche Konsultation der Europäischen Kommission zu Energiestrukturen läuft.
Doch zurück zum cep, das EU-weite Mindeststandards für die „Sicherheit des Betriebes von Kernkraftwerken“ will. Der Atommüll wird marginalisiert. Cep fordert eine „möglichst kostengünstige“ Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien am Energiemix. „Kosten“ meint keineswegs „gesellschaftliche Reproduktionsaufwendungen“. „Erneuerbare Energien“ meint insbesondere Energie aus Megaprojekten wie Seatec und Desertec, die weder sozial noch ökologisch nachhaltig sind. Folgerichtig heißt es beim cep: „Strom aus erneuerbaren Energien steht nicht gleichmäßig zur Verfügung und muss oft über weite Distanzen zu den Verbrauchern transportiert werden. Dies erfordert den nationalen und grenzüberschreitenden Ausbau der Energieinfrastruktur (Netze und Speicher).“
Werden jedoch erneuerbare Energien lokal und regional gewonnen und genutzt, werden die Transporte „über weite Distanzen“ nicht gebraucht. Derartige Netztransporte drohen auch nicht funktionssicher zu sein, zumal erneuerbare Energien nur bedingt speicherbar sind. Hinzu kommen neue „Sicherheitsbedürfnisse“, erst recht, wenn es sich wie bei Desertec um neokoloniale Projekte handelt.
Unter den Bedingungen der öffentlichen Haushaltslage ist die Orientierung auf große Investitionen und Megaprojekte besonders interessant. Würde auf dezentrale regenerative Energien gesetzt, würde ein hoher Anteil des von der Europäischen Kommission konzipierten Investitionsbedarfes entfallen. Für das gesamte EU-Energiesystem wäre der kalkulierte Gesamtbedarf eine Billion Euro bis 2020 (Netze, Energieeffizienz, echte und falsche – Stichworte: Desertec und Seatec – erneuerbare Energien). Öffentliche Verschuldung einerseits und vermeidbare Großinvestitionen andererseits drücken auf für die Allgemeinheit erforderliche Haushaltsausgaben, aber bedeuten öffentliche Aufträge und Kredite für Konzerne, öffentliche Zinszahlungen an (private) Finanzinstitutionen, neue Abhängigkeiten der öffentlichen Hände, Profite und neuen politischen Einfluss zugunsten der Kapitaloligarchien. Es verwundert auch nicht, dass zu den dringlichen Energieeinsparungen durch Reichert und Voßkühler angemerkt wird: „Energieeinsparungen sollten nicht zulasten ökonomischer Effizienz gehen. Die Kommission sollte daher ihren angestrebten dirigistischen Ansatz zugunsten marktwirtschaftlicher Instrumente aufgeben.“
Selbstverständlich muss „Dirigismus“ nicht sinnvolle wirtschaftspolitische Regulierung bedeuten, aber am Markt gewinnen immer die ökonomisch Stärkeren, was nicht zugunsten der gesellschaftlich notwendigen Energiewende gehen muss.
Es genügt also nicht „AKW abschalten“ als Forderung allein gegenüber der Bundesregierung zu erheben. Linke Konzepte einer Energiewende müssen diese als Herzstück eines sozialökologischen Umbaus betreiben. Dazu gehört nicht zuletzt, selber Stromerzeuger/in und Energieeinsparer/in werden zu wollen und als linke EU-Bürger/in zu denken und zu handeln. Die Aktionen am und um den 26.4., den 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl, sollten dafür ein Einstieg sein.