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Bernd Ziesemer, Chefredakteur des Handelsblatt, stellt heute völlig zurecht fest, dass die Krise nicht durch die Gier einzelner Banker ausgebrochen ist. Es muss da ein Problem im System liegen. Er sieht dieses Problem in der Komplexität der Wechselwirkungen verschiedenster Prozesse, von denen, so Ziesemer „einige … technisch so kompliziert (sind), dass sie sich dem öffentlichen Dialog oder gar dem politischen Streit im Parlament weitestgehend entziehen.“ Er leitet daraus folgende Schlussfolgerung ab: „Wenn die These von der Hyperkomplexität dieser Krise stimmt, dann offenbaren sich auch die eigentlichen Gefahren der jetzigen etatistischen Versuchung: Ein Mehr an Staatseingriffen kann ein ohnehin schon komplexes System noch komplexer und daher künftig noch störanfälliger machen.“
Es sei an dieser Stelle dahingestellt, ob Komplexität bedeutet, man könne die Ursachen bestimmter Prozesse nicht ausmachen. Richtig ist, dass der Moment des Ausbruchs von Krisen nicht ohne weiteres zeitlich genau vorherzusagen ist. Ursachen von Krisen und Auslöser von Krisen sind sehr unterschiedliche Dinge. Allerdings bleibt er hier unterkomplex – die Klimakrise und der milliardenfache Hunger in der Welt (beides ökonomische Faktoren höchster Relevanz) kommen nicht vor.
Weiter – was ist die Ursache der Komplexität selbst? Die von Ziesemer für „mausetot“ erklärte Richtung der Kapitalismuskritik sieht darin vor allem eine durch die Konkurrenz um Verwertung angetriebene Entwicklung gesellschaftlicher Arbeitsteilung auf der einen und der Erweiterung der Formen der Bewegung fiktiven Kapitals auf der anderen Seite. Ziesemer wird die Ursachen der Krise nicht verstehen, wenn er nicht die Ursachen des Entstehens von Derivaten etc. versteht.
Aber das ist sicher das weniger wichtige Problem, um das es hier geht. Viel wesentlicher ist die bei ihm angelegte und ausgesprochene gesellschaftspolitische Konsequenz:
„Wie schreibt ein zweiter Nicht-Ökonom, der Verfassungsrichter Udo Di Fabio, ganz zu Recht: Die “Nebelwand der Komplexität” führt zu einem “Verlust der Alltagsvernunft”. Oder umgekehrt: Mit bloßer Alltagsvernunft lassen sich komplexe Systeme kaum noch stabilisieren. Hier entwickelt sich ein geradezu fundamentales demokratietheoretisches Problem: Parlamentarier sollen über die Regulierung von Finanzsystemen entscheiden, die selbst Fachleute kaum noch begreifen. In der Realität bestimmen nicht Abgeordnete, sondern einige wenige Berater daher den Gesetzgebungsprozess. Möglicherweise folgt daraus eine paradoxe Einsicht: Der Staat sollte nicht mehr, sondern weniger regeln. Er sollte sich beispielsweise auf sehr wenige, aber harte Regeln für die Banken konzentrieren und ihre Einhaltung weltweit streng kontrollieren. Diskretionäre Staatseingriffe je nach Gusto erhöhen die Systemrisiken, statt sie zu vermindern. Die wichtigste Frage ist also nicht: Wie kontrollieren wir die Märkte besser? Die Kardinalfrage lautet: Wie bringen wir sie dazu, besser zu funktionieren? Denn Märkte sind Staatsbeamten in der Verarbeitung komplexer Informationen trotz allem meilenweit überlegen. Und damit wären wir dann nicht mehr bei Keynes und Company, wie im bisherigen Diskurs über die Finanzkrise, sondern möglicherweise doch wieder bei Friedrich August von Hayek, dem Theoretiker freier Märkte. Das wäre dann ein gutes Beispiel für das, was wir die Dialektik der Geschichte nennen.“
Abgesehen von dem unsinngen Vergleich von „Märkten“ und „Staatsbeamten“, kommen wir hier wieder auf Urfragen ökonomischer Wissenschaft zurück – z.B.: Was ist eigentlich der Markt. Für Ziesemer ist er offensichtlich ein lebendes Wesen mit eigener Intelligenz. Sicher, das ist eine der Grundprämissen von wesentlichen Richtungen ökonomischen Denkens – aber trägt diese Prämisse eigentlich?
Aber auch diese These ist für den Autor nur Hebel, um zum Kern zu kommen – und das ist letztlich eine Absage an die bürgerliche Demokratie wie wir sie kennen. Weniger Regulierung – aber die an den wichtigsten Stellen – das hört sich gut an – wenn man nicht konkret danach fragt, was nicht mehr reguliert werden soll. Die Antwort wird mit dem Verweis auf Hayek gegeben. Hayek einen Demokraten mit sozialem Gewissen zu nennen, fällt allerdings schwer.
So setzt sich hier eine politische Tendenz fort, die schon im Herbst letzten Jahres begann. Die Krise wird in eine Legitimation der absoluten Herrschaft des Kapitals umgedeutet – denn Märkte können ja wohl kaum herrschen…
Mehr dazu auch in der Ausgabe 2 der Zeitschrift Luxemburg und im Argument 283 oder PROKLA 157.

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