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Das vergangene Jahr seit den Präsidentschaftswahlen hat Russland verändert. Die Richtungsentscheidungen, die mit der Besetzung der Regierung und der Rentenreform durchgesetzt wurde, hat die Unzufriedenheit im Lande deutlich steigen lassen. Die wachsende Bereitschaft zu Protesten setzt sich mehr und mehr in wirkliche Aktionen um. Das ist eine neue Situation. Allerdings trifft diese Tendenz auf ein politisches Vakuum. Nach wie vor gibt es keine Organisation, die die Vielzahl der lokalen Aktionen in eine politische Bewegung umsetzen könnte.

Dieser Widerspruch bestimmt die gegenwärtigen Debatten der verschiedenen oppositionellen Strömungen in Russland in den letzten Monaten. Man könnte sagen, dass die Protestbewegung auf der Suche nach sich selbst ist. Ein Moment dieser Suche war das III. Russländische Sozialforum, das am 18. und 19. Mai in St. Petersburg, dem früheren Leningrad stattgefunden hat. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützte eine im Rahmen des Forums stattfindende Veranstaltung. Das Forum hatte sich das Ziel gestellt, einen Raum für die Vernetzung und Koordinierung zwischen den verschiedenen sozialen Bewegungen zu schaffen. Den Hintergrund dieser Zielstellung beschrieb Aleksandr Buzgalin in Alternativy 2/2019 als Dilemma – trotz wachsender Unzufriedenheit bleiben Intensität und Koordinierung von Protesten wenig entwickelt. Das Vorbereitungskomitee formulierte als gemeinsame Anliegen der TeilnehmerInnen folgende Punkte:

  • Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik und der Losung: Menschen, nicht der Profit – wirtschaftliche Entwicklung im Interesse des Landes und des Menschen“
  • Senkung des Niveaus der sozialen Ungleichheit und Überwindung von Armut, Stärkung sozialer Garantien, allgemeine Zugänglichkeit zu Leistungen des Gesundheitswesens, von Bildung und Kultur
  • Konsequente Realisierung der Rechte der Arbeitenden, der sozialen und BürgerInnenrechte, gesellschaftliche Kontrolle in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Politik; die Arbeit des Staatsapparates unter die Kontrolle der Gesellschaft stellen
  • Freundschaft der Völker, Kampf gegen die faschistische Gefahr.

Dementsprechend wurden 14 Arbeitsrichtungen vorgeschlagen:

  • Reform der Wirtschaftspolitik und ihrer Institutionen (dazu lag dem Forum ein Projekt eines „Minimalprogramms der Linken“ , verfasst von David B. Ėpshtejn, vor)
  • Verteidigung sozialer Rechte und Leistungen und Verminderung der sozialen Ungleichheit
  • Sicherung einer allgemein zugänglichen und qualitativ hochwertigen sozialen Sphäre
  • Situation in der Arbeitswelt
  • Beziehungen zwischen den Nationalitäten/Nationen
  • Frauenbewegung, Probleme von Familie und Kindern
  • Umweltprobleme und Probleme von Stadtentwicklung und ländlichen Räumen
  • Sicherung des Rechtes auf Wohnen
  • Reale Demokratie, soziale und BürgerInnenrechte
  • Unabhängige Forschung zu sozialen Fragen
  • Der Kampf um Sicherung und Entwicklung von Wissenschaft, Bildung und Kultur
  • Probleme des Zusammenwirkens von sozialen Bewegungen, NGO und linken politischen Organisationen
  • Massenmedien (einschl. Internet)
  • Internationale Erfahrungen und Kontakte.

Besonderen Zulauf unter den zwischen 500 und 1000 TeilnehmerInnen hatten die Diskussionen zu den Massenmedien und zur Frage der Geschlechterverhältnisse.

Bedauerlicherweise konnten an dem Forum ExponentInnen der Gewerkschaft KTR, die eine große Rolle bei der Initiierung und Vernetzung der Proteste gegen die Rentenreform gespielt hatte, wegen des gleichzeitig stattfindenden Gewerkschaftskongresses nicht teilnehmen. Dieser Kongress fasste Beschlüsse, die den Themenstellungen des Forums entsprachen – so zu Fragen des gemeinsamen Handelns der Beschäftigten bei der Erweiterung ihrer Rechte und beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, zu Fragen der Koalitionsfreiheit in Russland, zur Rentenpolitik und zur Geschlechtergerechtigkeit. Zudem war die Frage nach der Rolle der Gewerkschaften in mehreren der Arbeitsgruppen ein Thema. Sie müßten, so wurde in dem Bericht einer der Gruppen gesagt, wieder den Klassenpol besetzen. Gefordert wurde eine Demokratisierung der Gewerkschaften.

Bei solchen Gelegenheiten wie den Sozialforen treffen immer drei Tendenzen aufeinander, die sich auch in den Debatten via Papier und Internet widerspiegeln: die Frage, wie die Massen für politisches Handeln erreicht werden können, die Selbstverständigung über die eigene Herkunft und die Bewertung der eigenen Geschichte sowie die Frage nach der Aktualität des Marxismus und die Suche nach theoretischen Anknüpfungspunkten in früheren Debatte oder in denen des westlichen (hier vor allem angelsächsischen) Marxismus.

Zum ersten Aspekt. Auf dem Forum wurde dieser Aspekt vor allem unter den Gesichtspunkten der Kämpfe um Geschlechtergerechtigkeit, Menschen- und Bürgerinnenrechte sowie hinsichtlich der Nutzung des Internets und anderer Medien für Mobilisierung und politische Bildung diskutiert. Auch Erfahrungen bei der Schaffung neuer Organisationsformen, bis hin zu Parallelstrukturen (als Räte) zu bestehenden staatlichen Strukturen, bildeten einen Gegenstand. Die Treffen zur Gender-Frage und zur Rolle der Medien waren auf dem Forum die am besten besuchten. Geschlechtergerechtigkeit wurde vor allem unter den Gesichtspunkt der erstarkenden konservativen Tendenzen diskutiert. Die große Rolle des Internet und anderer Medien für die verschiedenen oppositionellen Gruppierungen macht verständlich, warum die beständigen Versuche der Regierung, die Internet-Nutzung zu reglementieren, auf entschiedenen und kreativen Widerstand stoßen. Zuletzt war sie mit dem Versuch, den Messengerdienst Telegram zu blockieren, gescheitert.

Es wird aber auch die grundsätzliche Frage nach dem, was linke Bewegung ist gestellt. Auf dem Forum selbst wurde das Problem vor allem in der Eröffnungsdiskussion deutlich. Neben dezidiert Linken trat z.B. mit Ruslan Grinberg vom Ökonomie-Institut der Akademie der Wissenschaften ein Exponent der (schwachen) sozialdemokratischen Tendenz. Ein Vertreter der eher „wirtschaftsfreundlichen“ Partei des Wachstums (Partija Rosta) sprach sich in Anspielung auf den Filmzyklus „Der Herr der Ringe“ für eine „Bruderschaft des Rings“ aus. Der Menschenrechtsbeauftragte von St. Petersburg forderte zur gemeinsamen Verteidigung der Bürgerinnenrechte auf … In den Kommentaren wird diese dem Forum angemessene Breite unterschiedlich bewertet. Zwischen den Tendenzen, die hinter den Webprojekten Levoradikal auf der einen und Antikapitalist auf der anderen Seite stehen, wurde schon vor einiger Zeit die Frage nach der Breite der linken Bewegung kontrovers diskutiert.

Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen vermittelten ein Bild von der Breite sozialer und politischer Widersprüche im heutigen Russland. Neben den grundsätzlichen strategischen Fragen, wie ökonomische und sozialpolitische Strategien, Bürgerrinnenrechte (insbesondere die Koalitions- und Versammlungsfreiheit), Geschlechtergerechtigkeit oder Zusammenwirken von sozialen Bewegungen und politischen Organisationen in Russland und im postsowjetischen Raum, ging es um konkrete Alltagsprobleme.

Themen waren z.B. die Lage von MieterInnen und kleinen WohnungseigentümerInnen, die Situation in Bildung und Wissenschaft, dabei vor allem um den Kampf gegen Privatisierungen und um Probleme in konkreten Regionen des Landes hinsichtlich Qualität und Zugänglichkeit von Bildungsangeboten. Auch mit Bezug auf den Umgang mit dem kulturellen Erbe (das die gebaute und natürliche Umwelt mit einschließt) wurden die bestehenden Privatisierungstendenzen thematisiert. In Bezug auf die Auseinandersetzungen um den Bau einer orthodoxen Kirche gegen den Willen eines Teils der Bevölkerung in Ekaterinenburg wurden die Fragen der Verquickung von Religion und Politik, von Kirche und Staat diskutiert.

Die praktischen Vorschläge, die in den Arbeitsgruppen entwickelt wurden, spiegeln diese vielfältigen Konfliktlagen wider. Vorgeschlagen wurde die Fortsetzung der Proteste gegen die Rentenreform, der Kampf für die Reform sozialer und kommunaler Leistungen und für die Indizierung des Arbeitslohns (also die Automaltische Anpassung an die Inflation). Notwendig seien Gesetze, die die Arbeit von GewerkschafterInnen erleichtern und sie besser vor den UnternehmerInnen schützen. Es ginge darum, das Zusammenwirken der verschiedenen oppositionellen Akteure auf der lokalen Ebene zu verbessern. Die Erfahrungen von Aktionen müßten aufmerksamer studiert werden. Es wurde die Schaffung eines Solidaritätsfonds angeregt, mit dem Menschen, die im Zusammenhang mit Protestaktionen Repressionen erfahren, unterstützt werden sollten.

 

(wird fortgesetzt)

 

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