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Mit dem Armutsatlas hat der Paritätische zur richtigen Zeit das richtige Thema aufgerufen. Die Ergebnisse bringen keine wesentlich neuen Erkenntnisse – und genau das ist das erschreckende.
Bereits seit vielen Jahren wird in Sozial- und Armutsberichten die Tendenz zur Verfestigung und Ausweitung von Armut und prekärer Lebensweise beschrieben. Der Paritätische selber, die Caritas, der DGB, wissenschaftliche Einrichtungen, die Bundesregierung selbst u.a. haben derartige Berichte in inzwischen großer Zahl in die Öffentlichkeit gebracht. Speziell zur Situation in den ostdeutschen Bundesländern steht mit den Untersuchungen des SFZ Berlin-Brandenburg umfangreiches Material seit Jahren und kontinuierlich zur Verfügung. Der Sozialstrukturatlas in Berlin sei ein weiteres Beispiel. Auch internationale Organisationen verwiesen auf die drohenden Probleme in Deutschland. So vermerkte im vergangenen Jahr die ILO in einem Bericht, dass in Deutschland die Schere zwischen höchsten und niedrigsten Löhnen immer weiter auseinandergeht. Und mit Social Watch gibt es auch eine Organisation, die verschiedene Ergebnisse von analytischen Arbeiten und Erfahrungen zusammenführt.

Sage also niemand, sie/er habe es nicht gewusst – oder nicht wenigstens wissen können!

Die Liste der Beispiele, in denen Anlässe für soziale Unruhe dokumentiert sind, ließe sich fortsetzen. Trotz dieser Analysen ist die Agenda 2010 durchgesetzt worden, trotz dieser Untersuchungen sind hinsichtlich der Durchsetzung des Prinzips der Armutsfestigkeit sozialer Sicherung keine Fortschritte zu verzeichnen. Mehr noch – die Schwachpunkte der bundesdeutschen Sozialstaatlichkeit, ihr repressives Moment, wurde immer weiter ausgebaut. Gerade die Hartz-Reformen führten zudem zu einem Abbau der ausgleichenden Wirkung der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. Im Zusammenhang mit dem jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht hieß es auf der Website der Bundesregierung: „Insgesamt 13 Prozent der Bundesbürger gelten als arm. Ohne die sozialen Leistungen wie Arbeitslosengeld II, Wohn- oder Kindergeld läge die Quote doppelt so hoch. Das zeigt, dass der Sozialstaat in Deutschland wirkt – auch im europäischen Vergleich.“ Sicher, auch das ist eine mögliche, sehr selbstgefällige Sichtweise – freilich eine, die der Problemlage nicht gerecht wird und die Armen und von Armut bedrohten verhöhnt. Wenn 26 Prozent der Bevölkerung am Rande der Armut leben, bedeutet dies, dass mehr 26 Prozent der Bevölkerung mit einer permanenten Bedrohung leben müssen. Dies war aber auch der Ansatz der Agenda 2010. Der „aktivierende Sozialstaat“, der Schutz vor Armut mit dem Zwang zur Selbstvermarktung um jeden Preis verbindet, war Ziel. Und dieses Ziel ist offensichtlich erreicht worden und wurde auch nicht wieder aufgegeben.
Unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise stellt sich die Frage nach der Stabilität der Lebensverhältnisse und der sozialen Sicherungssysteme aber neu. Nicht umsonst gehörte die Verhinderung eines sprunghaften Anstiegs der Arbeitslosigkeit durch Verlängerung der Fristen für die Gewährung von KurzarbeiterInnengeld und einige Maßnahmen zur Konsumstabilisierung durch direkte (Kindergeld) und indirekte (Abwrackprämie) Instrumente zu den ersten Aktivitäten nach offenem Ausbruch der Krise. Es ging vor allem um die Wahrung der sozialen Stabilität. Die hysterischen Reaktionen schon auf die vorsichtigen Hinweise auf die Möglichkeit sozialer Unruhen zeigen die Unsicherheit und Angst, mit der die Herrschenden die soziale Entwicklung beobachten.

Wie vom Wissen zur Veränderung?

Die Varianz der Aktionen gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf die sozialen Sicherungssysteme ist nicht groß. Nachdem in den neunziger Jahren und noch zu Beginn der 2000er Sozial- bzw. Armutsberichte sowie Armutskonferenzen perspektivreiche Ansätze für die Formierung einer neuen Art von Widerstand, die Protest und Gestaltung gleichermaßen eingeschlossen hätte, boten, haben sie jetzt offensichtlich an Bedeutung verloren. Der Sozialforumsprozess konnte diese Lücke nicht schließen. Dass durch die Reichtums- und Armutsberichterstattung der Bundesregierung das Widerstandspotenzial domestiziert wurde, ist nur ein Aspekt, und vielleicht der unwichtige. Wichtiger ist, dass mit der Durchsetzung der Agenda 2010, vor allem die Hartz-Gesetze, mit der Privatisierung öffentlicher Unternehmen und öffentlicher Räume und die Aufspaltung der Belegschaften (Ausweitung von Leih- und befristeten Arbeitsverhältnissen) wesentliche Verbindungsglieder zwischen Protest und Gestaltung verloren gegangen sind. Die endgültige Verwandlung der selbstverwalteten Sozialversicherungen in Transformatoren eines neoliberal geprägten Gesellschafts- und Menschenbildes hat ein Übriges getan. Der Druck in Kommunen und Ländern auf eine den neoliberalen Umbau unterstützende Form der Haushaltskonsolidierung hat auch hier Berührungspunkte von gestaltender und protestierender Politik geschwächt. Die dem „Klassenkampf von oben“ folgende teilweise Radikalisierung konnte sich nicht in ein neues Konzept von Solidarität umsetzen. Die Tendenz zu Passivität bzw. zu einem neuen Korporatismus („falsche Solidarität“) sind derzeit (oder noch?) stärker als die Gegentendenzen.
Die Stärke der Herrschenden ist die Spaltung der Beherrschten – auch jetzt gilt diese alte Weisheit. Es ist die eigene Schwäche, die die Gesellschaft unveränderbar erscheinen lässt. Die Begräbnisse des Kapitalismus, die wir bei der DGB-Demo im Publikum oder bei sonstigen Anlässen zelebrieren bedeutet bei weitem noch nicht die Neuschöpfung einer Gegenkraft.
Was hat dies nun mit dem vorgelegten Bericht des Paritätischen zu tun? Sozialberichterstattung und Sozialberichte können ein Instrument sein, um sich Gemeinsamkeiten bewusst zu werden und zu politischer Aktion anzuregen, ihr nachvollziehbare Ziele zu geben. Dies nicht einfach in einem platten Sinne (das alle Probleme haben, wissen wir schon), sondern als Elemente einer öffentlichen Diskussion – nur dann haben sie auch einen politischen Sinn. Armutskonferenzen konnten dann etwas bewegen, wenn sie Öffentlichkeit fanden. Sie konnten sich nur so als eigene Formen von Widerstand, als gestaltenden Widerstand bewähren.
Dazu jedoch sind zwei Barrieren zu überwinden – auf der einen Seite die der reflexartigen Aversion gegen Staatliches und Parlamentarisches sowie auf der anderen Seite die der reflexartigen Unterschätzung des Außerparlamentarischen. Tatsächlich hat es die Linke vermocht, in den Landesparlamenten und in vielen Kommunalparlamenten den Zusammenhang von Krise und Verschärfung der sozialen Situation zum Thema zu machen. (eine Übersicht findet sich unter dem Suchwort Krise auf der Kommunaldatenbank der LINKEn) In den alternativen Konjunkturprogrammen ist eine Verbindung von Krisenüberwindung und sozialer Stabilisierung ein wichtiger Bezugspunkt. Bei aller Inkonsequenz orientiert auch der Green New Deal in der Fassung der deutschen Grünen auf die Etablierung eines neuen sozialstaatlichen Kompromisses, wenn auch mit einer deutlichen Präferierung eines grünen Kapitalismus. Aber Nicht-Kapitalismus wird bei keiner parlamentarischen Aktion kurzfristig herauskommen. Gleiches gilt aber auch für Sozialberichterstattung, Armutskonferenzen und andere Formen von gestaltendem Widerstand und Protest.
Unter den Bedingungen der Krise wäre die aktive Einflussnahme auf die Verteilung der Konjunkturpaketmittel, wenigstens die Transparenz der Verteilungsprozesse, auf der einen Seite und die Entwicklung der Beobachtung der sozialen Folgen als öffentlicher Prozess der Sozialberichterstattung ein möglicher Ansatzpunkt für die Entwicklung einer neuen Solidarität, die sich von korporatistischen Tendenzen abgrenzt und Traditionen der ArbeiterInnenbewegung unter den neuen Bedingungen positiv aufhebt, so auch neue Ansätze für Bündnisse schafft. Dies wiederum wäre zu verbinden mit einer Offensive zur Demokratisierung von Haushaltspolitik über alle Ebenen (von der EU bis in die Kommune), da diese der entscheidende Hebel für die Krisenbewältigung wie auch für die Abwälzung der Krisenfolgen auf die breiten Massen ist. Unter dem regionalpolitischen Aspekt ginge es gleichzeitig um eine Reanimierung und Demokratisierung der öffentlichen Unternehmen (einschließlich der Deprivatisierung) als Kristallisationspunkte für eine andere Art der Bewältigung der Globalisierung, eine Verbindung lokaler und globaler Arbeitsteilung. Bemerkenswert ist, dass es dafür viele Einzellösungen in der Praxis bereits gibt, es aber unmöglich scheint, sie zu verbinden. Die Hürden, die das verhindern, sind nicht sachlicher Natur, sie sind vor allem ideologischer und kultureller Natur.

Weiterführend
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat in den Jahren von 2000 bis 2007 ein Projekt des Instituts für Sozialdatenanalyse gefördert, das die unterschiedlichen Wege der Berichterstattung und die Frage nach der Umsetzung der Ergebnisse in politisches Handeln zum Gegenstand hatte. Weiter zur Projektwebsite

Unterstützende Materialien für die Politische Bildung
Initiativen aus dem EU-Parlament
Die amtliche Sozialberichterstattung

Website der Nationalen Armutskonferenz
Bericht “Leben in Europa”

Die soziale Lage in der Europäischen Union 2007
zu den Wirkungen der Krise und Hartz IV

One Response to “Die Wirklichkeit der sozialen Unruhe…”

  1. Europa ist ein neo-korporatistische System, das sich zeichnet bei der Schaffung von sozialen Ängsten (Zitat von Jan Theuninck, September 2009)

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