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Horst Kahrs, Stand: 25. März 2020
0.
Die Corona-Pandemie kam wie aus heiterem Himmel und doch mit Ansage. Die Krise wird nicht irgendwann vorbei sein und die Welt zur Normalität zurückkehren. Das kann man auf jeden Fall von vorhergehenden globalen Pandemien und Krisen lernen: Manche bleiben an der Oberfläche, andere gehen in die Tiefe. Die Zukunft ist dann nicht mehr das aufgrund der bisherigen Erfahrungen zu erwartende, sondern etwas Unerwartetes. Sie ändert ihre Richtung. Dass die Corona-Krise eine solche tiefe Krise ist, dafür spricht unter anderem, dass sie zeitlich zusammenfällt mit den globalen Wirtschaftskämpfen und der Neuordnung der internationalen Arbeitsteilung, der heraufziehenden Klimakatastrophe, den Migrationsbewegungen und der Krise der Demokratien. Wenn es nicht wieder so sein wird, wie es war, was wäre dann für das Handeln in Zeiten großer Unsicherheit und Unberechenbarkeit zu bedenken?
1.
Virologen und Epidemiologen warnten seit Jahren, dass nach aller Wahrscheinlichkeit erneut Viren mutieren, Epidemien entstehen und eine Pandemie ausbrechen würde. Gegen diese Wahrscheinlichkeit gibt es keinen absoluten, wirksamen Schutz. Nicht einmal des Verbot von traditionellen chinesischen Marktgepflogenheiten brächte diese Sicherheit. Denn an anderer Stelle zeitigen die menschlichen Eingriffe in die Tiefen der „Natur“ und ihrer komplexen Zusammenhänge Wirkungen, deren Folgen nicht restlos überschaubar sind und sein werden.
Man hätte damit rechnen können und müssen, dass es zu einer Pandemie kommen wird und entsprechende Vorbereitungen treffen können. „Man“: das sind, zumindest in demokratischen Systemen, nicht allein die Regierenden, die Vorbereitungen unterlassen haben, sondern auch alle anderen gesellschaftlichen Kräfte und Bürger und Bürgerinnen, die nicht darauf gedrungen haben. Ebensowenig bringt es, den Verantwortlichen vorzuwerfen, sie hätten „zu spät“ Maßnahmen ergriffen. Selbstverständlich ist richtig, dass die Ausbreitung des Virus in Island, Norwegen, Deutschland und anderen Ländern deutlich hätte verlangsamt werden können, wenn man die Après-Ski-Partys in Ischgl zehn Tage früher geschlossen oder den rheinischen Karneval ganz abgesagt hätte – doch wären bei dem damaligen geringen Verbreitungsgrad des Virus in Europa, bei einem entsprechend geringen Risiko-Gefühl in der Bevölkerung solche Verbote überhaupt befolgt worden oder durchsetzbar gewesen? Um welchen Preis? Es greift jedenfalls zu kurz, für (zu) späte Reaktionen oder unterlassene Vorsorge allein „Profitdenken“ oder nachlässige Regierende verantwortlich zu machen.
2.
Das Beispiel einiger asiatischer Länder, so Südkorea, zeigt, dass Gesellschaften und Staaten aus Epidemien lernen und mit diesem Wissen neue Epidemien zwar nicht verhindern, aber eindämmen können. Was lehrt uns die Corona-Pandemie, genauer: Was wollen wir daraus lernen? Was also könnte in diesem Sinne die Wirkung der Pandemie auf die gesellschaftlichen Kapazitäten, Strukturen und Ressourcen, die uns in die Lage versetzen sollen, mit ihr umzugehen, ihr entgegenzuwirken, für die Zukunft lehren? Offensichtlich sind diese Strukturen in mehrfacher Hinsicht fragil, verletzlich, unzureichend. Doch in welcher Hinsicht, d.h. mit welchen gesundheitspolitischen Zielen und Strategien soll einer Seuche begegnet werden? Soll die, wie die Epidemiologen sagen, notwendige und unausweichliche „Durchseuchung“ möglichst schnell stattfinden, braucht es z.B. entsprechende vorrätige Kapazitäten an Krankenhausbetten und -geräten. Soll sie möglichst früh erkannt und regional eingedämmt werden, braucht es medizinische „Überwachungssensibilität“ und Testkapazitäten. In beiden Fällen wären die wirtschaftlichen Folgewirkungen womöglich geringer, aber die materiellen und immateriellen Kosten für die Vorhaltung von Kapazitäten jedweder Art im Gesundheitssystem und für die Gesundheitsüberwachung der Bevölkerung höher. Hält man solche Bevorratungskosten niedrig, steht man vor der Wahl, das Gesundheitssystem kollabieren zu lassen oder die „Durchseuchung“ zu verlangsamen, damit aber auch die Folgewirkungen in anderen gesellschaftlichen Subsystemen zu verlängern und zu verstärken.
Diese kleinen Skizzen möglicher Zielorientierungen mögen zeigen, das Abwägungen möglich und nötig sind, aus denen dann unterschiedliche Richtungen für weitere Lehren folgen können. Wenn in der aktuellen Corona-Krise Virologen und Epidemiologen ihr Nichtwissen über das Virus und die Wirksamkeit von Maßnahmen betonen, also herausstellen, dass wir uns in einer Situation der Unsicherheit über die Folgen unseres Handelns befinden, dann gilt das ebenso für die Frage nach den Lehren, die aus der Krise zu ziehen wären, also inwiefern es nicht wieder so werden soll wie es zuvor war.
Skepsis, Misstrauen gegenüber allen, die heute bereits wissen, was „notwendig“ war, ist und sein wird, sind auch heute erste demokratische Bürgerinnenpflicht. Worauf es ankommt, damit aus der Krise Lehren gezogen und nachhaltige Änderungen erreicht werden können, sind transparente, nachvollziehbare Abwägungsprozesse, um Entscheidungen mit Legitimation auszustatten und Vertrauen in demokratische Institutionen zu schaffen.
3.
Jens Bisky spricht zurecht von „drei Sorgenkreise(n), die auf vertrackte Weise miteinander zusammenhängen“: die Sorge um die Gesundheit, die Sorge um die wirtschaftlichen Folgen und die Sorge um die politische Verfasstheit, die Demokratie (SZ, 25.3.2020). Die Sorge um die Gesundheit, das Gesundheitssystem dominiert aktuell die anderen Sorgenkreise. Die Erwartungen an die Schutzfunktion des Staates sind hoch. Die Anhänger der Schuldenbremse und der Schwarzen Null, eigentlich eine knappe Mehrheit in der Bevölkerung, nehmen ohne größeren Protest hin, wie in kürzester Zeit dieses Kernstück einer ganzen politischen Ära entsorgt wird. Und die Bundesregierung legt dem Parlament ein Gesetz vor, mit dem der Gesundheitsminister ermächtigt werden soll, an den Parlamenten vorbei tief in die föderalen Kompetenzen und die Balance staatlicher Institutionen einzugreifen. Doch aus den USA, von den Börsen, erreichen uns bereits Debatten, die die Dominanz des Gesundheits- und Bevölkerungsschutzes in Frage stellen und berechnen, wann die Kosten für „die Wirtschaft“ den Nutzen für den Gesundheitsschutz übersteigen, sprich: ab wann der volkswirtschaftliche Schaden zu groß werden wird und man der Seuche besser ihren freien Lauf lassen sollte.
Hinter solchen Abwägungen steckt naturellement die Sorge um die Rendite. Was darüber aber nicht vergessen werden darf: Diese kapitalistische Wirtschaft generiert gleichzeitig die Sorge um Löhne und Einkommen, die Sorge um den Lebensstandard oder vor Verarmung; oder schlicht die Sorge, wie lange der Staat die wirtschaftlichen Ausfälle kompensieren kann. Da mag die deutsche „Bazooka“, die Scholz und Altmeyer auf den Tisch legten, ganz schön mächtig sein; sie wird aber schnell an ihre Grenzen stoßen, wenn andere Volkswirtschaften kollabieren oder an den Börsen wieder begonnen wird, wie damals im Fall Griechenlands, auf den baldigen Zusammenbruch zu wetten. Wir wissen nicht, wie sich Stimmung und Einstellungen in vier, acht Wochen gewendet haben werden, was dann als „notwendig“ erscheinen wird. Oder auf einen anderen Punkt hin formuliert: Ich weiß heute nicht, wie lange ich die Risiken sozialer Kontakte für meine Gesundheit (und die anderer) höher bewerte als die Verluste, die home office und social distancing und Kontaktsperre mit sich bringen.
4.
Die globalen wirtschaftlichen Folgen der Pandemie werden enorm sein: Arbeitslosigkeit, Konzentrationsprozesse, starke regionale und sektorale Verschiebungen in der globalen Arbeitsteilung, vieles in seinen Dimensionen bislang kaum vorstellbar. Ein kleines Beispiel: ein erheblicher Teil des griechischen Sozialprodukts, zumal das auf den meisten Inseln, hängt vom Tourismus ab – wie werden diese Inseln, wie wird die griechische Wirtschaft aussehen, wenn infolge der Pandemie die gesamte Urlaubssaison ausfallen sollte? Wohin, gegen wen werden sich die damit verbundenen „bösen Leidenschaften“ und Emotionen, Wut, Hoffnungslosigkeit und Ressentiments wenden?
5.
Wollte man eine Art Zwischenfazit der möglichen Lehren aus der Krise ziehen, dann brächte ich in Anschlag:
(1) Der Schutz der Gesundheit, des Lebens der Bevölkerung – die erste Aufgabe eines legitimen Staates – vermag Profitstreben – vorübergehend? – in den Hintergrund zu drängen. Das kann man für zukünftige globale Bedrohungen, Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe erinnern; dazu gehört aber auch die Schattenseite, die mancherorts zu Tage tritt: die Erwartung an den Staat legitimiert den Ausnahmezustand und die (Selbst-)Entmächtigung von Parlamenten (wie z.B. in Ungarn).
(2) Die Einsicht in die Vernunft, die Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln der Bürgerinnen und Bürger, ist vorhanden, aber nicht allgemein. Wenn es darauf ankommt, dass alle mittun, braucht es Regeln, damit dem leichten Verdacht der Boden entzogen wird, man könnte der Dumme sein, wenn man freiwillig verantwortlich gegenüber anderen handelt, andere aber weiter nur zu ihrem eigenen Vorteil, sei es dem Genuss oder Gewinn. Das kann man sich merken, wenn es wieder einmal darum geht, notwendige Regeln für Märkte als „freiwillige Selbstverpflichtungen“ einführen zu wollen. Und wir werden als Gesellschaft wohl oder übel lernen müssen, dass in vergleichbaren Krisensituationen der Verkauf von Gütern, die alle benötigen, generell rationiert werden sollte.
(3) Veränderungen des sozialen Alltags, mithin gesellschaftliche Transformationen, die immer auf das aktive Mittun von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen sind, auf diejenigen, die die Veränderung leben, brauchen nicht nur veränderte Strukturen und Institutionen, sondern auch Legitimation und Vertrauen. Beides erreicht man durch transparente Abwägungen, also demokratische Prozesse, in die unterschiedliche Perspektiven eingehen. Politische Kräfte, die nicht allein auf Charisma und Autoritarismus setzen, brauchen nicht nur interne offene Abwägungsprozesse, sondern ebenso von außen wissenschaftliche, fachliche Expertise ganz unterschiedlicher Art: Epidemiologen, Mediziner, Organisationswissenschaftler, Naturwissenschaftler, Psychologen, Soziologen, Ökonomen usw. werden benötigt, um nachhaltig Legitimation und Mehrheiten für Transformationsvorhaben in demokratischen Gestaltungsprozessen erzeugen zu können. Nur dann besteht Aussicht, möglichst viele beabsichtigte wie unbeabsichtigte Wirkungen berücksichtigt zu haben. Vertraue in gesellschaftlichen Angelegenheiten nie auf das Fachwissen nur einer Profession!
6.
Wollte man heute aufrufen, was „nach der Krise“ vielleicht anstehen wird, dann würde ich vor allem und mit Blick auf linksdemokratische, fortschrittliche Politik in Anschlag bringen:
(1) „Resilienz“ und „kritische Infrastrukturen“. Die Krisenfestigkeit unserer sozialen Infrastrukturen muss dringend erhöht werden, und zwar als weitgehend öffentliche Infrastruktur. Das gilt für die medizinische, aber auch für andere wie digitale Strukturen, Stromnetze, Wasser usw. Die Versorgung dieser Infrastruktur wie auch die Grundversorgung der Bevölkerung müssen weitgehend unabhängig von eng getakteten globalen Lieferketten im Rahmen regionaler wirtschaftlicher Grundstrukturen (Subsysteme) gewährleistet werden, die Kriterien der Wirtschaftlichkeit müssen neu definiert werden. Hierbei handelt es sich um ein weites Akteursfeld und neue Antworten auf alte Fragen: Auf welche Zeit wird die Krisensituation berechnet? Und wie wird die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ – hier: in der Krisenvorsorge – definiert? Vermutlich ist dies ein „Muss“, also etwas, wo es mehr um das Wie und weniger das Ob geht.
(2) Perspektive der „Reproduktion“. Die gegenwärtige Krise stärkt all denjenigen den Rücken, die bisher schon darauf bestanden haben, dass kritische Infrastrukturen nicht allein nach Rendite- und Effizienzkriterien strukturiert werden dürfen. Sie rückt auch all die sonst unsichtbaren bzw. übersehenen Hände ins Blickfeld, die für die reibungslose Organisation des Alltags sorgen. Die Krise bietet die Chance, die berufliche und gesellschaftliche Arbeitsteilung und ihre Bewertung in Gestalt von Preisen und Löhnen vom Standpunkt der Reproduktion des sozialen, gesellschaftlichen Lebens neu zu denken, zu rekonstruieren und zu bewerten (und nicht nur als eine von Produktion und Wachstum abgeleitete Größe zu betrachten): Damit etwas erwirtschaftet werden kann, braucht es gesellschaftlich (ab-)gesicherte Voraussetzungen.
(3) Rettungsschirme mit Lenkungsfunktion. Ob die staatlichen Programme zur Rettung von Arbeitsplätzen, Einkommen und Unternehmungen am Ende ausreichen werden, in welchem Zustand sich die Staatsfinanzen dann befinden werden, wissen wir nicht. Wir können aber davon ausgehen, dass erhebliche Ressourcen, die für die Anpassung an Klimakatastrophen und für den sozialökologischen Umbau gebraucht würden, für die aktuelle Krisendämpfung verbraucht sein werden. Sofern es sich hierbei um Kredite handelt, sollte möglichst rasch ein Zusatzprogramm entwickelt werden: Umwandlung von Krediten in Zuschüsse für alle Unternehmen, die ihre Produktion in Richtung eines sozialökologischen Umsteuerns der Wirtschaft neu ausrichten, die sich selbst nachhaltig „dekarbonisieren“. Für die Ausarbeitung eines solchen Programms wäre breiter Expertenverstand einzubeziehen und viel stärker als bisher das Wissen von Beschäftigten zu mobilisieren.
(4) Lastenausgleich und Einhegung. Resilienz und krisenfestere Infrastrukturen, die mit Blick auf kommende Epidemien und Klimakrisen gebraucht werden, erfordern einen finanziell starken Staat. Die finanzielle Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des sozialen Rechtsstaates muss gesichert werden. Deshalb sollte mit einem Lastenausgleichsgesetz dafür gesorgt werden, dass in dieser krisenhaften Ausnahmesituation eine befristete Abschöpfung von Vermögen und Vermögensgewinnen stattfindet, am besten mit dem Zweck der Reinvestition in öffentliche Güter. Und: Der Wiederaufbau nach der Krise wird ohne den Kapitalismus, ohne seine Konzerne, Banken und Finanzunternehmen schwerlich möglich sein. Hierfür müssen die Rahmenbedingungen einer neuen Partnerschaft mit dem Staat bereits in der Krise formuliert werden, insbesondere wenn es zu Staatsbeteiligungen zur Rettung einzelner Unternehmen kommen sollte.
(5) Europäische Koordination. „Europa“ wird nach der Krise wohl kaum wieder zu erkennen sein, vielleicht sogar als EU überholt. Die Wirkungen der Krise auf die einzelnen Volkswirtschaften sind derzeit kaum kalkulierbar. Noch weniger, ob der erfolgte Rückgriff auf die nationalstaatliche Schutzfunktion an Stelle einer europäischen und die damit verbundene Stärkung des Nationalismus absehbar rückgängig gemacht werden können. Beschlagnahmungen von Atemschutzmasken an den Grenzen können langfristig wirkenden Symbolcharakter bekommen. Die Parlamentsentmächtigung in Ungarn, die Entwicklungen in Polen werfen die Frage auf, ob es nach der Krise in Europa nicht vielleicht neue Diktaturen gibt, die eigentlich nicht Mitglied der EU sein können. Gleichzeitig lehrt diese Krise aber auch, wie wichtig europäisch und global koordiniertes Handeln ist, was für die kommenden Krisen erst recht gilt. Am Ende der Krise wird eine neue europäische Initiative des Zusammenhalts und der Koordination stehen müssen, nach Lage der Dinge vielleicht: europäisches Investitionsprogramm in die soziale Infrastruktur, irgendeine Form europäischer Arbeitslosenversicherung, Eurobonds als minimale Variante eines europäischen Lastenausgleichs.
7.
Vielleicht sieht die Welt in sechs Wochen aber auch noch ganz anders aus.
Vielleicht werden wir uns vor allem darüber wundern, was wir in den Zeiten der Quarantäne an Neuem entwickelt und an Altem wiederentdeckt haben. Und wie daraus entstandener Optimismus Zukunftsängste verdrängt und Zukunft als Ort des Möglichen und Erstrebenswerten erscheinen lässt.

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