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Durch die Wahlerfolge der AfD oder von Trump sind «ländliche Räume» und ihre BewohnerInnen wieder vermehrt ins öffentliche Interesse gerückt. Gleichzeitig künden die gigantischen Auflagen von Zeitschriften wie «Landlust» (monatlich über 800.000 Exemplare, DER SPIEGEL kommt wöchentlich auf 700.000) von einer neuen, naiven und idealisierenden Sichtweise auf «das Land». Für den Kulturgeographen Werner Bätzing sind es historisch-rückblickend immer gesellschaftliche Umbruchsituationen, in denen «das Land» besonders positiv oder negativ gesehen wird, insofern sei der Umgang damit ein Spiegel des gesellschaftlichen Wandels. Mit seinem klugen und in einer sehr angenehmen Sprache verfassten Buch liefert er wertvolles Orientierungswissen. Er fragt, ob es heute überhaupt noch «ländliches Leben» oder «ländliche Räume» gibt, und wenn ja, ob sie noch gebraucht werden?

Bätzing, der vor allem als engagierter «Alpenforscher» bekannt ist, versteht und benutzt seine Disziplin, die Geographie, als Leitwissenschaft, die um die drei Komplexe Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft (und deren Verbindungen) kreist und ergänzt diesen Ansatz ausdrücklich und ausführlich um historische Aspekte. So reicht sein geschichtlicher Blick bis zur Entstehung der Sesshaftigkeit, der sog. «Hochkulturen» und der Städte zurück. Die erste Hälfte des Buches umfasst den Zeitraum bis ungefähr 1960, die zweite vertieft den Zeitraum bis zur Gegenwart, und wagt dann einen Ausblick in die Zukunft. Bätzing untersucht die Entstehung der Landwirtschaft, das Mittelalter, ebenso wie die Anfänge von Tourismus und Heimat- und Naturschutz als Begleitumstände der industriellen Revolution. Den entscheidenden Kipppunkt und Strukturbruch setzt er für Mitteleuropa für die 1960er Jahre an, als die flächendeckende Modernisierung der ländlichen Räume und die immense Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft beginnt. Das Land wird nun, wieder einmal, als «Provinz» entwertet und die bis dahin bäuerliche Landwirtschaft verschwindet durch den immensen Einsatz billiger, fossiler Energie (Erdöl). Dies und der Einsatz von Kunstdünger ermöglicht schrittweise die Entkopplung der Landwirtschaft von der Fläche. In der Raumordnung beginnt die Suburbanisierung und vor allem um die Oberzentren herum entsteht politisch gewollt die «Zwischenstadt» mit ihrem auf privatem PKW beruhenden Verkehrsaufkommen.

Niedrige Lebensmittelpreise sind angesichts eines wachsenden und ebenso politisch gewollten Niedriglohnsektors wichtig für die Kaufkraft vieler Menschen. Die Bevölkerung und vor allem das Bevölkerungswachstum sind allerdings ungleich verteilt. Seit bereits 1972 sinkt durchgehend die Bevölkerung, Wachstum gibt es nur noch durch Zuwanderung. Diese ist eher jung und siedelt sich vorzugsweise in den Städten an, so dass die ländlichen Räume im Durchschnitt altern und die Bevölkerungszahl dort überall abnimmt. Das Land erlebe weiter, so Bätzing eine «dezentrale Verstädterung», da auch in ländlichen Räumen der Anteil derer, die dort in «Kleinstädten» leben, steige. Bätzing geht auch auf die Debatten um die Zukunft des bzw. den «neuen» Naturschutz ein: Ist Renaturierung oder gar «Wildnis» wirklich die Lösung?

Im Buch werden viele wichtige Definitionen gegeben und Zahlen und hilfreiche Statistiken vorgestellt. Ländliche Räume hält Bätzing weiterhin für nötig, da sie ein anderen Entwicklungsmodell verkörperten, oder zumindest als Sinnressource daran erinnern: An ein Modell, das auf Prinzipien eines anderen Wirtschaftens beruht und v.a. etwas naturnäher arbeitet, nicht so auf Wachstum orientiert ist und in dem die Menschen eine größere soziale Nähe (zusammen) leben. Seine Prognose ist allerdings, dass «ländliche Räume», so wie sie die letzten Jahrzehnte (noch) existierten, verschwinden werden, wenn nicht, auch ordnungspolitisch, gegengesteuert werde. Kernbestandteile einer sozial-ökologischen Entwicklung ländlicher Räume seien u.a. die Steuerung /Umverteilung des Tourismus hinein in die Fläche; Maßnahmen zur weiteren Energieeinsparung und Verkehrsreduzierung; sowie ein grundsätzlich regionaler Ansatz, der in den Menschen das größte und ernstzunehmende Potential sieht.

Mit «Das Landleben» liegt ein spannendes, mehr als lesenswertes Buch vor, das viele Aspekte nennt und interdisziplinär verknüpft – und aus dem sich sehr viel lernen lässt. Neben den Büchern von Gerhard Henkel dürfte es ein Standardwerk werden. Zu Recht.

Werner Bätzing: Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform; C. H. Beck Verlag, München 2020, 302 Seiten, 26 EUR

Text: Bernd Hüttner

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