Alexander Recht, Paul Schäfer, Axel Troost, Alban Werner haben mit ihrem Hauptbeitrag im Juni-Heft der Zeitschrift Sozialismus „Aprilthesen“, wie sie selbst sagen, die überfällige Strategiedebatte (S.5) bei den Linken eröffnet, „den ersten Aufschlag“ gemacht. Die mutige Titelanleihe bei Lenin ist durchaus begründet, auf keinen Fall marktschreierisch, weil auch ihr Artikel in unserer Zeit politisches Gewicht hat. Mich hat an diesem Beitrag beeindruckt, daß er überhaupt zustande kam und w i e die Autoren an die Schlüsselfragen der Modernisierung linker Politik herangehen, nicht kleingeistig sondern mit scharfem Blick für Überfälliges. Ich selbst bin in weit bescheidenerem Maßstab auch schon dieser Frage nahe gekommen und war zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangt. Deshalb begrüße ich diese Initiative genau so, wie es fast alle Autoren in diesem Heft tun und verstehe gelegentliche kritische Anmerkungen (Bernd Riexinger S.12; Michael Brie und Klaus Lederer S. 17; Nils Böhlke, Janine Wissler S.29 -32) als konstruktiven Beitrag um der Sache willen, nicht um den in den Aprilthesen vorgeschlagenen Kurs mit einem Protestruf wieder in eine Sackgasse zu leiten.
Die Vielzahl linkskritischer Strömungen steht in Deutschland vor dem Problem, daß der Mainstream von bestimmender offizieller Politik, gelenkt und selbstdiszipliniert mitarbeitenden Massenmedien und Journalisten, wirtschaftlichen Erfolgen mit insgesamt ansehnlichem Lebensstandard, zudröhnender Unterhaltungslandschaft und großen Möglichkeiten der Urlaubs- und Freizeitgestaltung bewirkt, daß sich ein großer Teil der deutschen Bevölkerung nicht in Wechselstimmung weder in Richtung der bestehenden Regierung schon gar nicht in Richtung des Systems befindet, auch nicht in Richtung der Europäischen Union. Seien wir mal froh, daß wir in Deutschland leben, meinen angesichts der offenkundigen Probleme viele. Gebildete Erfolgsbürger denken sich – mehr als man ahnen mag – schon ihren gesellschaftskritischen Teil, sind aber politisch kaum engagiert, weil erreichter Wohlstand zufrieden und abhängig macht, Arbeit und Familie ihre Ansprüche stellen, während ein anderer wachsender Bevölkerungsanteil, der unteren Mittelschicht und vor allem der Unterschichten, resigniert, keine Alternativen sieht, sich ganz aus dem politischen Leben zurückzieht und das hohe Maß sinkender Wahlbeteiligung entscheidend bestimmt.
Unter solchen Bedingungen Politik zu machen, ist erst recht für die Partei Die LINKE, die auf Veränderungen und auf Zählbares hinsteuern muß, kein Kinderspiel. Joachim Bischoff, Hasko Hüning, Christoph Lieber und Björn Radke wählen in ihrem Artikel einen ähnlichen Ausgangspunkt (S.33). Sie stellen hierzu fest: „Die Einsicht, daß nur Schritte in Richtung einer Transformation des modernen Kapitalismus aus der globalen Krise des Finanzmarktkapitalismus herausführen und eine erneute Zuspitzung der Krise künftig verhindern, ist nicht weit verbreitet“.
Um diese Transformation geht es.
Mittlerweilen sind zu dieser Thematik eine bestaunenswerte Menge von Artikeln und Büchern von einem breiten Autorenspektrum erarbeitet worden, die allesamt den politikwissenschaftlichen Horizont für linke Politik weit aufgestoßen haben und nach der Zeit relativer Wissenschaftsstagnation in regionalen und zeitlichen Teilabschnitten des 20. Jahrhundert, mit seinem im Stalinismus und im temporären Triumph des Realsozialismus begründeten ideologischen Fundamentalismus, wieder deutlich zunehmend praxistaugliche Erkenntnisse hervorbringen.
25 Jahre nach der Implosion des realsozialistischen Systems und dem scheinbaren Sieg des Kapitalismus kommt derselbe schon wieder ins Straucheln, gefährdet Natur und Gesellschaft und steuert auf globalen Notstand hin. Immer mehr drängt sich nun mit voranschreitender Zeit, mit ständiger Verschärfung der gegenwärtig zu lösenden gesellschaftlichen Probleme die Notwendigkeit auf, durch die richtige Politik gravierende Verbesserungen zu erreichen. Das erhöht den Erfolgsdruck auf die Partei Die LINKE und verschärft die Frage, wie sie ihre Politik gestalten soll, um besser und effizienter beim deutschen Bürger anzukommen, mit mehr Zustimmung zum Auftreten ihrer Repräsentanten, zu ihren Aktionen, auf den verschiedenen politischen Konfliktfeldern, mit der schließlichen Bereitschaft, bei Wahlen der Linken ihre Stimme zu geben.
Das Heute ist so vollgepackt mit Problemen, sodaß sich m.E. bei allen berechtigten Gründen für sorgfältiges parteiorientiertes Nachdenken Prinzipienreiterei und Erbsenzählerei verbieten. Es muß die Bereitschaft in der Partei entwickelt werden, andere Wege zu beschreiten. Neue Gedanken dürfen nicht mehr mit lautstarkem Wehklagen ob drohender ideologischer Gefahren in Richtung Linientreue, in Richtung Parteienabgrenzung wieder zugeschüttet werden. Die Partei Die LINKE hat mittlerweile, trotz noch lauernder Gefahren einer unsinnigen Kräftezersplitterung, eine solche konzeptionelle und kämpferische Qualität erlangt, ist so hartnäckig in ihren Handlungen, daß sie sich nicht davor zu fürchten braucht, daß ihr eine andere Partei die politische Butter vom Brot nimmt.
Deshalb halte ich es für notwendig, daß die möglichen Wege zu gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen fester anvisiert werden und eine Strategie entwickelt wird, die daraus ihre Konsequenzen beherzt ableitet. Viele Aussagen dazu sind bereits verbreitete Erkenntnis, seien dennoch zur Verdeutlichung hier noch einmal aus Sicht dieses kurzen Textes zusammengefaßt:
- Die Wege zur Veränderung der kapitalistisch geprägten Herrschaftssysteme verschiedenster Couleur führten auf grund der bisherigen historischen Erfahrungen, des 19. Jahrhundert, vor allem bis zum Ende des 20. Jahrhundert, über die revolutionäre „Nachnutzung“ chaotischer gesellschaftlicher Bedingungen vor allem infolge Krieg aber auch gesellschaftlicher Katastrophen anderen Charakters noch nicht nachhaltig zum Erfolg. Die in solchen historischen Situationen gegebenen Chancen des Umbaus per revolutionärem Dekret der scheinbar am Boden liegenden alten Machtverhältnisse erreichen nur begrenzte Wirkung. Der systemhafte, nachhaltige Wandel der bisher herrschenden Verhältnisse kann so nicht gelingen, vor allem, wenn keine ausreichenden demokratischen Voraussetzungen für einen solchen Versuch gegeben sind oder das alte System noch über große Fähigkeiten zur Eigenkorrektur verfügt.
Dieses negative Resumee einer vergangenen Epoche mit ihren millionenfachen Anstrengungen und Opfern für den gesellschaftlichen Fortschritt, mit ihrem Mut und ihren Idealen bis zur Selbstaufopferung aber auch Dogmen ändert nichts an dem großen historischem Erfahrungsschatz, der in diesen Zeiten gewonnen wurde. Die Revolutionäre und Mitstreiter , die damals vorangeschritten sind, mit ihren Ideen vom Morgen und auch mit ihrem Irren und den Fehlern über die Wege dahin werden niemals vergessen sein. Die gegenwärtig propagierte pauschale Negativbewertung dieser Geschichtsabschnitte durch eine neoliberale Klassenideologie wird schließlich mit dem Reifeprozeß der Demokratie einer breiten historisch gerechten Beurteilung weichen, die von den Idealen des sich stetig durchsetzenden menschlichen Fortschritts geprägt ist.
- Der Einwurf, und wie wäre das heute, wenn eine gereifte linke Partei, die aus der Geschichte gründlich gelernt hat und von der gefestigten Idee des demokratischen Sozialismus ausgeht, künftig bei Eintreten der o.a. Bedingungen die Revolution organisiert? Dann lautet meine Antwort:
Erst einmal tut die Partei DIE LINKE alles ihr mögliche, um Kriege und Kriegskatastrophen mit ihren Folgen bis zu Massenflucht der Bevölkerung zu verhindern. Bei Naturkatastrophen mit vielen Opfern und riesigen Schäden hat die Gesellschaft in ihrer Mehrheit ebenfalls alles andere als Systemänderungen im Sinn. In übergreifenden Notsituationen aller Art, z.B. auch Finanzkrisen, Epidemien, ist der gesamten Gesellschaft zwangsläufig das Hemd näher als der Rock, ist auch der heutige Kapitalismus schneller zu bestimmten Hilfen und zum Wiederaufbau befähigt, als es eine im revolutionären Wandel befindliche Gesellschaft in ihrer Frühphase könnte.
Bei Eintreten einer solchen Situation ist es natürlich möglich, aus diesen Notphasen heraus in den nachfolgenden Perioden eine effektivere linke Politik zu entwickeln, weil es dann leichter ist, die gesellschaftlichen Ursachen für diese Katastrophen einer breiten aktuell politisch bewegten Öffentlichkeit verständlich zu machen oder an Mängel bei der Überwindung der Katastrophenfolgen anzuknüpfen. Dann wird es möglich, zur Ursachenbekämpfung auf demokratischem Wege gravierendere gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, die größere Schritte eines transformatorischen Prozesses sein können.
Das Eintreten einer solchen Situation setzt noch nicht einmal voraus, daß die LINKE direkt an der zentralen Regierung eines Staates beteiligt ist. Richtige linke Politik kann aber unter diesen Bedingungen dazu führen, daß die herrschende Regierung in eine Richtung geschoben wird, die den artikulierten Interessen einer breiten Mehrheit der Bevölkerung besser entspricht. Zur Untersetzung dieses Prozesses ist es aber immer förderlich, wenn Die Linke im regionalen und kommunalen Rahmen an den Parlamenten und wenn möglich auch an den leitenden Institutionen beteiligt ist, um ihre wachsende politische und sachbezogene Fähigkeit zu erfolgreicher Kooperation zu demonstrieren. .
- Die in dieser Reihung angeführte 3. Variante ist das Modell eines revolutionären Wandels, das es auf Basis einer Regierungsübernahme, infolge von überdurchschnittlich guten linksorientierten Wahlergebnissen und einer breiten Veränderungsbereitschaft in der Bevölkerung, möglich macht, bestimmte Strukturfragen z.B. im Bereich des übermächtigen Finanzkapitals, der Großbanken und der öffentlichen Daseinsfürsorge im größeren Stile als bei einer sonst üblichen „Scheibchenpolitik“ anzugehen. Das Erreichen einer solchen Situation, die unter deutschen Bedingungen z. Z. unrealistisch erscheint, bedarf einer systematischen, politisch und fachlich hochqualifizierten jahrelangen Kleinarbeit der
Linken, um zu mindestens in die Nähe solcher Erwägungen, wie die der dritten Variante, vorzustoßen. Die Aussicht auf die Wirklichkeit einer solchen Variante erhöht sich, wenn es allen deutschen demokratischen und linksorientierten Parteien und Kräften gelänge, ihren, in der gegenwärtigen Periode eines konfliktbeladenen 21. Jahrhundert immer überlebter erscheinenden, Konservatismus in Fragen moderner Politik und Kompromißbereitschaft aufzugeben. Die Zeit einer Generalrevision herkömmlicher Standpunkte ist gekommen.
In Übereinstimmung mit einem breiten Spektrum an wissenschaftlichen Standpunkten und Meinungsäußerungen betrachte ich die bewußt betriebene und befeuerte Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse des heutigen modernen finanzkapitalistischen Systems, in einem zutiefst demokratischen, friedlichen und unvermeidlich schrittweisen Prozeß, als die entscheidende Form des notwendigen Wandels zu einem neuen Gesellschaftsmodell. Es ist der Weg der Mühen, der oft nur kleinen Erfolge. Er ist aber auch der Weg des Sammelns der Kräfte, der erwartet oder auch unerwartet zu größeren Fortschritten führen kann. Die gegenwärtige Flüchtlingskatastrophe z.B. bietet möglicherweise die große historische Chance in der Außenpolitik, im Nahen und Mittleren Osten und vielleicht auch gegenüber Rußland eine Wendung hin zur Vernunft zustande zu bringen. Es ist ein letztlich politisch zuverlässiger Weg. Ihn zu beschreiten, erfordert Mut und Ausdauer. Diesen Weg vorrangig zu beschreiten, halte auch ich für richtig.
Davon ausgehend teile ich voll die Ausführungen von Susanne Hennig-Wellsow (S. 21-24), die den Thüringer Weg der Linken beschreibt und auswertet., hier einige Kostproben, die das politisch notwendige genau treffen:
- „Utopische Gedanken und transformatorische Impulse werden in der gesellschaftlichen Linken allzu häufig vom realen politischen Feld abgespalten.“ (S.22)
- „In der Opposition immer nur recht haben zu wollen, hilft weder sozialen Bewegungen noch der Hegemoniefähigkeit transformatorischer Politik.“ (S.23)
- „…Dies gilt besonders für transformatorische Politik.. Und darum muß sie vorbereitet werden. Kontinuierliche und vertrauensvolle außerparlamentarische Zusammenarbeit mit SPD und den Grünen und ihren Milieus …ist zur Vorbereitung notwendig und kann dann auch zu dem ein oder anderen gemeinsamen parlamentarischen Projekt führen.“ (S.23)
- „…..ohne die bestehende jahrelange Zusammenarbeit der drei Parteien…..
eine Koalition auch mit dem besten Ergebnis der Linken bei Landtagswahlen nicht erfolgt wäre.“ (S. 23)
Erfolgreiche Oppositionsarbeit kann also durchaus zu einer erfolgreichen Koalitionsarbeit führen und pragmatisches Herangehen zur Grundlage für transformatorische Aktivitäten werden lassen.
In den „Maithesen“ von Kristina Vogt (S.25 – 28) wird ebenfalls eine tiefe Verbundenheit mit den vielen politischen Fragestellungen im Stadtstaat Bremen sichtbar. Sie drückt ihre Überzeugung aus, daß es einen linken Weg geben kann, der obwohl pragmatisch immer wieder systemkritisch ist. (S.28) Ihr Schlußsatz „Think global, act local!“ drückt die Zuversicht aus, daß den Linken nicht die klassische Falle wie den Sozialdemokraten droht, im Pragmatismus unterzugehen.
Es freut mich, daß sich auch Joachim Bischoff, Hasko Hüning, Christoph und Björn Radke in ihrem Artikel (S.33 – 35) auf Susanne Hennig-Wellsow berufen (S. 34), die auf das Erfordernis praktischer Erfahrungen in der kooperativen Zusammenarbeit aller Partner verweist, um Erfolge gegen den konservativen und neoliberalen Mainstream zu erzielen.
Zum Abschluß komme ich noch einmal auf den Beitrag von Joachim Bischoff u.a. zurück, weil darin noch einmal eine Beziehung zu Lenins Aprilthesen hergestellt wird und von Lenins linksradikalem Tigersprung die Rede ist. Zwangsläufig denkt man in diesem Zusammenhang auch an den von Mao Tsetung verkündeten Großen Sprung (!957-1962) oder an die von Walter Ulbricht verkündete Losung „Überholen ohne Einzuholen“ (1959). In allen diesen politischen Situationen sollten die Massen mit der Erwartung auf ein sozialistisches Wirtschaftswunder mobilisiert werden. Dabei wurden von vielen begeistert mitmachenden Menschen oft unter schwierigsten Bedingungen, von denen sich heutige Klugschwätzer keinen Begriff machen können, Leistungen erzielt, vor denen man auch heute noch den Hut ziehen muß. Aber eine stabile neue Gesellschaft erfordert über Jahrzehnte ebenso stabile und innovative Prozesse, die in einem undemokratischem und abgeschotteten System auf Dauer nicht erfolgreich sein konnten. Wie oft wurde in der DDR der Satz von der Arbeitsproduktivität als der letztlich alles entscheidenden Kategorie durchdekliniert. Eine durchaus richtige These, die der Realsozialismus nicht erfüllen konnte.
Sehr für unsere Situation angebracht ist das von den Autoren des o.a. Artikels eingebrachte Zitat von Karl Marx: „Wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechende Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden,wären alle Sprengversuche Donquichoterie.“ [1] Ritter von der traurigen Gestalt wollen die Linken doch wohl im 21. Jahrhundert nicht noch einmal sein.
In dem Artikel wird dazu aufgefordert, die Zusammenarbeit aller Parteien, der Gewerkschaften , aller Verbände zu forcieren, die bereit sind, sich gegen den Mainstream zu wenden. Ich möchte aus meinen Erfahrungen hinzufügen: auch aller Persönlichkeiten aus dem progressivem Journalismus, aus der Wissenschaft, Künstler, aus der gesamten Gesellschaft, die in ihrer Gesamtheit ein gewaltiges Wissen und eine starke politische Argumentations- und Überzeugungskraft verkörpern.
Wenn die Partei DIE LINKE in dieser Hinsicht vorankommen will, „muß sie sich noch ein großes Stück lockerer machen“ und Berührungsängste abstreifen und mit solcherart angelegten Aktivitäten nicht zu lange warten. Es wird Zeit.
—
[1] Karl Marx. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in Marx-Engels-Werke (MEW) Bd.42, Berlin, S.93