Was haben wir von der Besinnungspublizistik dieser Tage zur Causa Ukraine und, natürlich, in all’ den Jahren zuvor nicht alles gehört: Europa sei nicht imperial oder imperialistisch und frei von expansiven geopolitischen Ambitionen; Europa habe seine Kriegstradition des letzten Jahrhunderts abgelegt und sei zu einer Zivilmacht geworden; Europa sei auf dem Weg zu einer Stätte der weichen Macht und der sanften gewaltfreien oder -armen Konfliktlösungen; Europa sei jetzt schon ein Ort der Diplomatie, Zivilität und der Nutzung des Rechts und Vertragswesens; Europa sei ein soziales Europa, ein Refugium des Versicherungs-, Wachstums-, Sicherheits- und Sozialstaats, der den Normen sozialer Gleichheit und den Menschenrechten verpflichtet sei; Europa sei multikulturell nach innen und multilateral nach außen; Europa sei ein Hort vielfältiger Kulturen, Diskurse und Medien; Europa sei auf dem Weg, ein Kontinent des zukunftsfähigen und besonnenen Umgangs mit der Klima- und Umweltkrise zu sein und, ja, Europa sei nicht nur der historische Geburtsort der Demokratie, sondern die Gestalt eines großen Demokratiestaats neuen Typs, der Integration durch Teilhabe und Frieden statt durch Dominanz bewerkstellige und ein internationaler Akteur sui generis sei.
Dieser politische Kitsch, mit dem aktuell wieder einmal eine neue Weltordnung gepinselt wird, ist kaum zu ertragen. Er verdeckt die vier zentralen Veränderungen, um die es auch bei den Europawahlen 2014 geht.
• Europa ist eine imperiale Konstruktion, zu deren Bewegungsform die Expansion durch Ausweitung ihrer Raumhoheit gehört: Kosovo, Libyen, Syrien, eine Kette afrikanischer Staaten, Irak, Iran und nun die Ukraine – nach der Zeit der ökonomisch-militärischen Befestigung der „Osterweiterung“ und ihrer Nachbarschaftspolitik folgt gegenwärtig eine neue Phase, die Variante einer moralisch-militärischen Außenpolitik, die auf Intervention, Aufstand, Konflikt, Korruption und Angst setzt. „Um Europa herum bietet sich ein Bild von Chaos, Zerstörung und abgebrochenen Beziehungen“ (Malte Daniljuk).
• Die von England und Deutschland vorangetriebene und von Frankreich mittlerweile vielfach übernommene Politik der Überwindung der tiefen Krise des europäischen Finanzmarktkapitalismus durch neoliberale Kontinuität hat bislang die hegemoniale Rolle der transnationalen Finanzmärkte und eines weitgehend marktradikalen Politikansatzes erfolgreich gesichert – nicht zuletzt durch eine Politik der Austerität und Verelendung, die das soziale Gefälle des Kontinents auf ganz neue Weise radikalisierte und der Schwächung ökologischer Optionen, die auf Transformation setzen. Die EU konnte ihre Position als zweites Zentrum der globalen Finanzmarktpolitik und –macht neben den USA sichern.
• Das europäische Gefüge der Macht aber verändert sich dramatisch: Deutschland, das in den 70er und 80er Jahren noch als „ökonomischer Riese“ und „politischer Zwerg“ charakterisiert wurde, nimmt nun zunehmend eine „Führungsrolle“, zumindest aber eine „halb-hegemoniale Stellung“ (Habermas) in Europa ein. Deutschland ist auf dem Weg zu einem „embedded hegemon“ (Crawford), der als „frischgebackene Großmacht“ (NZZ) die Richtung vorgibt. Das gilt auch für den Kampf um die Ukraine: „Get Ready for a Russo-German Europe“ titelte Foreign Affairs vom 9. März 2014 und: “as the European Union moves eastward, settling its future borders and borderlands, it is Germany and Russia that will decide who is in and who is out — and under what terms.” Macht und Ohnmacht werden umverteilt.
• Endlich hat sich das politische Feld Europas deutlich nach rechts verschoben, wofür drei Prozesse stehen: die in der Eurokrise etablierte postdemokratische Troika- und Austeritätspolitik, neue soziale „Graswurzelbewegungen“ von rechts mit Themen wie Familienpolitik, Migration und Antiislamismus und schließlich der lange Aufstieg rechtspopulistischer oder faschistischer Formationen, die sich in einer ganzen Reihe von EU-Ländern im Staatsapparat verankern und erstmals seit dem Ende des zweiten Weltkriegs als legitimer politischer Mitspieler in Europa zu etablieren beginnen. Der Kapitalismus in Europa wird autoritär – und mehr.
Dieses andere Europa ist gekommen, um zu bleiben. Gegen uns.