Anfang März fanden sich Anhänger/innen der Solidarischen Ökonomie zu einem Forum in Kassel ein. Vor, auf und nach dem Forum wurde konstruktiver Streit über das Verständnis von „Solidarischer Ökonomie“ und das Selbstverständnis (einiger) ihrer Akteure in Deutschland belebt. Wie gut und wichtig das ist, zeigen z. B. fragmentierte Aktionskonferenzen und Beratungen von „Krisenprotest-Bündnissen“, Initiativen gegen Privatisierung, genossenschaftlichen Zusammenschlüssen … Im Rahmen des open space vereinbarten einige Forumsteilnehmer/innen in Kassel initiativ zu werden, damit zusammenkommt, wer zusammengehört im Ringen um gesellschaftsverändernde Solidarität. „Ein (weiteres) Diskussionsangebot zur Solidarischen Ökonomie“ soll dabei helfen und das folgende Papier wiederum den Weg dorthin befördern. Es ist noch lange nicht dieses kollektive „Diskussionsangebot“.Die entscheidende Frage ist: Wird Solidarische Ökonomie vorrangig oder einzig als Angelegenheit des eigenen Projektes/Betriebes zwecks Lösung von individuellen und Gruppenproblemen betrieben oder zugleich als Engagement für eine solidarische Gesellschaft (– perspektivisch ohne kapitalistische Produktionsweise).
Wird die solidarische Gesellschaft angestrebt, hat das Konsequenzen für eine/n selbst und für das eigene Projekt – sowohl was die eigenen Verhaltensweisen als auch was das Verständnis von Solidarischer Ökonomie anbelangt. Solidarische Ökonomie kann dann nicht mehr „einfach“ verstanden werden als Kooperation von in einem Betrieb oder einem Projekt gleichberechtigt wirtschaftenden/agierenden Menschen (a), die ihre Maschinen, Gebäude, Rohstoffe und Materialien und/oder ihre Wohnung/Mobilität/Konsumtionsmittel selbst verwalten (b), sich gemeinsam einen Lebensunterhalt/die Versorgung mit konkreten Produkten/Leistungen sichern (c) und sich zur Gesellschaft solidarisch verhalten (d). Schließlich ist „die Gesellschaft“ unsolidarisch. Sie muss verändert und grundsätzlich umgestaltet werden, wenn jede und jeder selbstbestimmt in Würde, in solidarischem Miteinander und in intakter Natur leben können soll. Wird eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, die solidarisch miteinander und im Einklang mit der Natur leben, angestrebt, müssen die gesellschaftlichen Produktions-, Konsumtions- und Lebensweisen umgewälzt werden. So muss heute gegen Privatisierung und Kommerzialisierung des Öffentlichen, gegen Konkurrenzverhältnisse, Armut/soziale Ausgrenzung und soziale Spaltungen, gegen Überwachung, Repression, Entdemokratisierung und Diskriminierung von Menschen, gegen Militarisierung und „Militäreinsätze“ bzw. Krieg opponiert werden. Zu dieser Opposition/Verweigerung/Rebellion gehören z. B. Initiativen gegen die Privatisierung von Krankenhäusern, für die Aneignung der Energieversorgung, gewerkschaftliche Kämpfe für Mitbestimmung im Unternehmen und in „der Wirtschaft“, für die unentgeltliche Nutzung des ÖPNV (zunächst) für Arme, gegen Kriegssteuern, gegen AKW … – für Solidarische Ökonomie.
Einige Diskussionsthesen:
- Wird Solidarische Ökonomie ausschließlich oder vorrangig im Sinne von a), b), c) und d) verstanden, kann sie leicht durch die Herrschenden genutzt werden, um soziale und demokratische Rechte abzubauen, Konkurrenzverhältnisse anzupeitschen, gesellschaftliche Hierarchien zu stärken, in der Gesellschaft Vereinzelung und Entsolidarisierung zu forcieren – gerade „in der Krise“.
- Für Solidarische Ökonomie muss es in Grundprinzip sein, immer zuerst den am meisten Bedürftigen, den am stärksten sozial und global Ausgegrenzten Hilfe zu erweisen. Ihre Lage, ihre Lebensverhältnisse müssen prioritär verbessert werden. Lebensverhältnisse betreffen immer zugleich das individuelle Leben im Zusammenleben mit anderen Menschen und mit der Natur – Lebensbedingungen sind immer zugleich soziale und ökologische.
- Solidarische Ökonomie kann nur dann auf eine solidarische Gesellschaft, auf die grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft und damit ihrer Wirtschaftssphäre zielen, wenn sie gegen die Ursachen und Verursacher der Finanz- und Wirtschaftskrisen, der Ernährungs-, Umwelt-/Klimakrisen, der Energie- und Ressourcenkrisen gerichtet ist. Sie muss – insbesondere angesichts der gesellschaftspolitischen Defensive der Linken – Aktivitäten in drei Richtungen stärken und miteinander verbinden. “Drei Wege sind gleichzeitig zu gehen”: 1) soziale, demokratische und ökologische Mindeststandards (z. B. armutsfeste Mindesteinkommen, Wahlrechte für Menschen ohne deutschen bzw. EU-Pass, Luftverschmutzung) verteidigen und erweitern; 2) um Einfluss auf öffentliche Finanzen (insbesondere Steuern, öffentliche Haushaltsausgaben, Finanzmarktregulierung) ringen; aktive Lokal- und Regionalentwicklung betreiben, die eng mit dem eigenen Projekt/dem eigenen Betrieb verbunden ist. Das Bindeglied zwischen 1), 2) und 3) sind partizipative Prozesse bzw. die Demokratisierung des Öffentlichen.
- Solidarische Ökonomie bedeutet also, Engagement im eigenen Projekt oder Betrieb mit sozialen bzw. gesellschaftspolitischen Bewegungen zu verknüpfen, beides zugleich zu tun. Also: Kenntnisse, Fähigkeiten und Problemlösungskompetenzen erwerben, sich selbst, die eigenen Handlungsmöglichkeiten, die Gruppe und kollektiven Handlungsmöglichkeiten stärken, aktive Bündnispolitik betreiben, gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen verändern (wollen), an gesellschaftlichen Alternativen arbeiten. Dabei muss immer in der einen oder anderen Art und Weise die Eigentumsfrage neu gestellt werden, denn es geht letztendlich immer um Machtbeziehungen zwischen Menschen, die sich auf die Verfügung über Produktions-, Zirkulations- und Konsumtionsmittel stützen.
- Für die Eine oder den Anderen mag die Orientierung auf das Leben genossenschaftlicher Werte im eigenen Betrieb bzw. Projekt und (zugleich) in der Gesellschaft gegenwärtig konkreter und hilfreicher sein. Als „genossenschaftliche Werte“ gelten international: Selbsthilfe, Eigenverantwortung, Demokratie, Gleichheit, Durchlässigkeit und Solidarität, Glaube bzw. Orientierung an Ehrlichkeit, Offenheit, soziale Verantwortung und Sorge für andere. Als „genossenschaftliche Prinzipien“ nennt die UNO folgende sieben: a) Freiwilligkeit und offene Mitgliedschaft, b) demokratische Mitgliederkontrolle, c) ökonomische Partizipation der Mitglieder, d) Autonomie und Unabhängigkeit, e) Bildung, Ausbildung und Information der Mitglieder und Kollektive, f) Kooperation unter genossenschaftlichen Unternehmen und g) Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.
Genossenschaftliche Werte und Prinzipien sind nicht an die Unternehmensform Genossenschaft – mit ihren gesetzlichen Grundlagen – gebunden, und die Mitglieder einer eingetragenen Genossenschaft müssen keinesfalls automatisch Akteure Solidarischer Ökonomie sein. Genossenschaftliche Werte und Prinzipien können durchaus zur Orientierung für den Umgang mit öffentlichem Eigentum genutzt werden. Sie sind anschluss- und entwicklungsfähig: Solidarität, soziale Verantwortung und Sorge für die Gesellschaft erfordern Engagement für Frieden und zivile Konfliktlösungen, für Demokratie und sozial gleiche Teilhabe an öffentlichen Gütern, für die Bewahrung und Gesundung der natürlichen Lebensgrundlagen. Dabei muss jedoch immer wieder um das Verständnis bzw. die gesellschaftspolitische Wertung von vor allem „Solidarität“ , “Eigenverantwortung” und „Sorge für andere“ gekämpft werden, denn sie können sehr verschieden, insbesondere neoliberal interpretiert und praktiziert werden – insbesondere was das Verhalten gegenüber den sozial und global Schwächeren/Schwächsten, den menschheitlichen Existenzprobleme bzw. globalen Probleme anbelangt.
(siehe auch bzw. ggf hier)
Viele Texte des Kasselaner Arbeitszusammenhanges zur sozialen/solidarischen Ökonomie sind unter www.uni-kassel.de/hrz/db4/extern/dbupress/publik/schriftenreihe.php?entw.html als PDF frei zugänglich. Schaut mal rein.