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Kurz nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 machten sich Sebastian Dullien, Andrea Nahles und andere für den guten Kapitalismus stark. Da die Sache mit dem Sozialismus ziemlich anstregend, unpopulär, langwierig, im Zweifel unwahrscheinlich, womöglich gar nicht machbar und auf alle Fälle nicht rasch zu verwirklichen sei (was man sich angesichts der gegenwärtigen Krise nun schon garnicht leisten könne), bliebe man besser beim Kapitalismus. Nur gut, echt gut solle er werden. In der LuXemburg 2/2010 ist das näher betrachtet worden. Ein erstes Zwischenresultat dürfte unstrittig sein: auf die Schnelle hat das nicht wirklich geklappt, aber mal sehn.

Auf alle Fälle bietet sich eine Ersatzvariante an, auf die just Dietmar Bartsch aufmerksam gemacht hat. Dieser wurde ein paar Tage vor Weihnachten von Welt online gefragt:

„Was unterscheidet sie in der Substanz von den Sozialdemokraten?“

Seine bemerkenswerte Antwort war:

„Der Kern ist, dass die SPD einen demokratischen Kapitalismus will und wir einen demokratischen Sozialismus wollen.“

Diese Unterscheidung teilen andere natürlich nicht…Der Hauptstadtbürochef des SPIEGEL Dirk Kurbjuweit publizierte in der Jahresendausgabe (deren Thema übrigens die „Liebe“ war) ein Essay mit der Überschrift: „Rückkehr der Ruchlosen. Über das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus“. Kurbjuweit nun erinnert daran, „dass der Kapitalismus kein bestimmtes System braucht“; er habe daher neuerdings wieder Alternativen zur Demokratie, diese aber habe keine zum Kapitalismus. Er unterscheidet zwischen dem demokratischen („die europäischen Demokratien“) und dem ruchlosen Kapitalismus („autoritäre Staaten wie China, Vietnam, Rußland, Kasachstan“). Ein demokratischer Sozialismus dagegen sei keine Alternative, weil er ohne Einschränkung der „Freiheiten“ nicht auskomme. Wie kommt man nun zu einem demokratischen Kapitalismus? Die Herstellung eines solchen ist nach Kurbjuweit sehr einfach. Jeder kann mitmachen. Man muss sich nur für ihn entscheiden:

“Ein Grundprinzip des Kapitalismus ist der Wettbewerb, also das Streben nach einem Unterschied, nach Ungleichheit. Es geht um das Streben nach dem Mehr für den Einzelnen, der mehr haben will als gestern, mehr als die anderen. Kapitalismus hat keine Regeln, keine Verfassung, er setzt sich zusammen aus unzähligen Entscheidungen von Menschen, die wirtschaftlich handeln. Von ihren guten Entscheidungen haben alle etwas, damit schafft der Kapitalismus den Wohlstand der Vielen. Die schlechten, die ruchlosen Entscheidungen können zerstörerisch sein. (…) Deshalb können die europäischen Demokratien den Systemwettbewerb eines neues Zeitalters selbstbewusst aufnehmen: demokratischer Kapitalismus gegen ruchlosen.” (SPIEGEL 52/20111 S.28f.).

Demokratischer Kapitalismus erfordert für Kurbjuweit ein gewisses Maß an Kapitalismusbändigung durch Moral und Regeln z.B. in Form einer Verfassung – that’s it. Im Milieu eines Hauptstadtbüros wachsen offenbar nur bescheidene Demokratieansprüche. Früher bedurfte es ziemlich blutiger Revolutionen oder wenigstens einer Handvoll Verstaatlichungen mitsamt  „erweiterter Mitbestimmung“ und Planung, um der Profitmacherei Grenzen zu ziehen.
Weitaus skeptischer steht demgegenüber Wolfgang Streeck vom MPI für Gesellschaftsforschung der Annahme gegenüber, Demokratie und Kapitalismus würden mehr oder weniger „problemlos zusammenpassen“. In mehreren im Wesentlichen gleichsinnigen und sehr lesenswerten Beiträgen als Vorlesung und Discussion Paper 15/2011 des MPIfG (“The crisis in Context”), in der New Left Review 71 (2011)  als “The crises of democratic capitalism”  und schließlich leider nicht online in Lettre International 95 von Anfang Dezember 2011 („Die Krisen des demokratischen Kapitalismus“) bilanziert er äußerst skeptisch, dass die demokratischen Staaten

“in Inkassoagenturen im Auftrag einer globalen Oligarchie von Investoren verwandelt werden, verglichen mit der die von C. Wright Mills beschriebene “Machtelite” als leuchtendes Beispiel für einen liberalen Pluralismus erscheint. Mehr denn je scheint wirtschaftliche Macht heute zu politischer Macht geworden zu sein, während die Bürger fast gänzlich ihrer demokratischen Verteidigungsmöglichkeiten und ihrer Fähigkeit beraubt sind, der politischen Ökonomie Interessen und Forderungen aufzuprägen, die mit denen der Kapitaleigner nicht vereinbar sind. In der Tat scheint sich heute, wenn man auf die demokratisch-kapitalistische Krisensequenz seit den siebziger Jahren zurückblickt, eine Möglichkeit einer neuen, mehr oder weniger dauerhaften Regelung des Sozialkonflikts des fortgeschrittenen Kapitalismus abzuzeichnen, diesmal gänzlich zugunsten der besitzenden Klassen, die fester denn je in ihrer politisch unangreifbaren Festung, der internationalen Finanzindustrie, verschanzt sind.” (LI, S.13)

Demokratischer Kapitalismus ist für Streeck eine politische Ökonomie, die durch den prozessierenden Widerspruch zweier Ressourcenallokationsprinzipien gekennzeichnet wird, die sich nach “Grenzproduktivität” (vulgo: Profit) bzw. soziale Bedürfnisse oder Ansprüche orientieren. Theoretisch lassen sie sich nie auf einen Nenner bringen – und praktisch auch nicht. Inflation (70er), Staatsverschuldung (80er ff.), der neoliberale “private Keynesianismus” durch private Schulden (90er ff.) und dann in der aktuellen Krise die erneute und dieses Mal absehbar weit über die “bloße” Produktion von Massenarbeitslosigkeit hinausgehende Skelettierung  politischer Ressourcenallokation via Staat sind solche großen Verschiebungen:

  “Der Normalbürger wird zahlen – für die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen, den Bakrott anderer Staaten, die steigenden Zinsen auf die öffentliche Verschuldung und notfalls für eine weitere Rettung nationaler und internationaler Banken – mit seinen privaten Ersparnissen, Kürzungen von öffentlichen Ansprüchen, Einschnitten in öffentliche Dienstleistungen und höheren Steuern.” (LI,11)

Im Unterschied zu Kurbjuweit sieht Streeck hier (und mittlerweile auch in der ZEIT) das Grundproblem des demokratischen Kapitalismus:

“Tolerierung von Inflation, Hinnahme von Staatsverschuldung und Deregulierung des privaten Kredits waren nur befristete Notlösungen für Regierungen angesichts des offenbar unauflöslichen Konflikts zwischen den beiden gegensätzlichen Allokationsprinzipien des demokratischen Kapitalismus: soziale Rechte einerseits und Grenzproduktivität nach Bewertung des Marktes andererseits. Jede der drei Lösungen funktionierte eine Zeitlang, begann dann aber, mehr Probleme zu schaffen, als sie löste, was zeigte, daß eine dauerhafte Versöhnung zwischen sozialer und wirtschaftlicher Stabilität in kapitalistischen Demokratien ein utopisches Projekt ist.”

Im letzten halben Jahrhundert lief  jede dieser großen Erzählungen von demokratischer Profitmacherei auf  eine weitere Umgewichtung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und eine Entwertung des demokratischen Moments hinaus.  Vieles spricht dafür, dass das aktuelle Geschehen in einen tiefen und neuartigen Einschnitt in die bürgerliche Demokratie einmünden wird, der mit den historisch vertrauten Kategorien des autoritären Militär- oder Sicherheitsstaates oder des terroristischen Faschismus nicht gefasst werden kann. In seinem Zentrum könnte etwas stehen, was bislang so nicht existierte: die Souveränität der internationalen Finanzindustrie.

 

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