Einleitende Bemerkungen zum Workshop „Krise, Krisen, Eurokrise“ am 16. und 17.12.2011
Unser Workshop fällt in eine Zeit, die in ihrer Dynamik vielleicht mit den Jahren 1989 bis 1991 zu vergleichen ist. Wir erleben eine Umverteilung von Macht und Ressourcen, die in ihren Konsequenzen noch nicht überschaubar ist. Mit der Fiskalunion wird sich eine neue Qualität von Staatlichkeit entwickeln. Der bereits abgelaufene Wandel in den EU- und nationalen Institutionen deuten auf ein neues Gewicht der Exekutive wie auch eine neue Institutionalisierung der Verflechtung von Staat und Wirtschaft hin. Für Deutschland betrifft das Soffin und seine Nachfolger, für die EU z.B. die „Troika“. Durch Verwaltungsreformen, Privatisierungen, Kommerzialisierung öffentlicher Leistungen und Haushaltskonsolidierung ist nicht nur eine gewaltige Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums erfolgt. Wichtiger ist, dass die Staaten in diesem Zusammenhang auch Steuerungsfähigkeit und Kompetenz/Wissen an die Privaten verloren haben. Zudem sind die Normen einseitig betriebswirtschaftlichen Handelns tief in die staatlichen Strukturen eingesickert. Haben wir es mit einer neuen Oligarchie zu tun? Wenn ja – was ist das gemeinsame Interesse – und wo liegt ihr Schwachpunkt? Jedenfalls traten bereits am Beginn der Krise, im Herbst 2008, die Banken mit dem Anspruch auf, die Spielregeln ihrer eigenen Sanierung selbst festzulegen. Fast zeitgleich erklärte Angela Merkel, dass es Zeit für eine weltweite Soziale Marktwirtschaft sei. Sie sagte:
„Wir brauchen dazu auch die notwendigen Institutionen auf internationaler Ebene. So wie wir einen UN-Sicherheitsrat haben, brauchen wir auch einen Weltwirtschaftsrat. Daran müssen wir in den nächsten Jahren arbeiten, Industrie- und Entwicklungsländer gemeinsam.“
Vor wenigen Tagen hieß es von Horst Seehofer, er habe sich in der Frage der Pläne der EU zur Krisenbekämpfung mit den Chefs der in Bayern beheimateten DAX-Konzerne und einem Ex-Bundesbanker konsultiert. (Wenn die Bayern Waffen zeigen, FTD vom 6.12.2011 S. 11) Am 14.12. berichtete die FTD, dass die Chefs der großen deutschen Unternehmen Merkels Haltung in der EU-Frage unterstützen. (Deutschlands Chefs stehen hinter Merkels Euro-Kurs, FTD vom 14.12.2011 S. 9) Das alles geht über simples Lobbying weit hinaus. Die Offenheit, mit der diese Verflechtungen behandelt werden, ist bemerkenswert. Dagegen sind die privaten Kreditgeschäfte des Bundespräsidenten völlig unbedeutend. Diese spiegeln lediglich eine Alltäglichkeit wider, die mit den Begriffen Korruption und Lobby nicht mehr zu fassen ist.
Für die EU können wir ganz ähnliche, eigentlich sogar weiter gehende Prozesse verzeichnen. 26 Staaten haben der Fiskalunion, damit dem Verzicht auf den Kern von Nationalstaatlichkeit zugestimmt. Dem 27., Großbritannien, ging der damit sicherzustellende Umverteilungsschub nicht weit genug. Was ist das gemeinsame Interesse? Denn eins ist klar: die Beschlüsse des EU-Gipfels werden die Widersprüche vor allem in den Ländern selbst zuspitzen – wie auch die Nutznießer in den Staaten selbst sitzen. Was versprechen sie sich von diesem Deal, der kein New Deal sein wird? Offensichtlich ist der zu erwartende Widerstand für sie kein Problem. Die Eliten der verschiedenen Länder scheinen sich des gemeinsamen Interessen genauso bewusst zu sein wie des Fehlens eines europäischen Widerstandes. Nur das kann dieses gemeinsame Handeln erklären. Basis ihrer Macht ist das Wechselspiel von Haushaltspolitik und Finanzmärkten. Ein vorgeblicher Sachzwang zieht den anderen nach sich. In diesem Wechselspiel können Entscheidungsprozesse monopolisiert und öffentlicher Kontrolle entzogen werden. Daran haben Spitzen des Staates wie auch der Wirtschaft gleichermaßen ein Interesse.
Die Konstellation, die sich hier entwickelt hat, ist lange unterschätzt worden. Angela Merkel meinte mit der Sozialen Marktwirtschaft nicht den Sozialstaat, sondern die Soziale Marktwirtschaft des Ordoliberalismus – eine ausgesprochen repressiv-patriarchales Gesellschaftsbild. Der Widerstand dagegen ist weitgehend zersplittert und kann nicht mit einem eigenen Gegenbild aufwarten.
Bei der Diskussion sind mindestens vier weitere Aspekte zu berücksichtigen, die die Lösungsrichtungen und die Lösungsweise der gegenwärtigen Wirtschafts- bzw. Haushaltskrisen bestimmen werden:
- Die Verknüpfung der unterschiedlichen globalen Krisen (Klima, Hunger, Wasser) mit den wirtschaftlichen Krisenprozessen
- Die sich wandelnde Rolle der BRIC-Staaten und weiterer aufstrebender Wirtschaftsmächte. Deren Interessen sind keinesfalls denen der Masse der Lohnabhängigen zugetan. Unlängst verlangte China von den USA, ihre „ausufernden Sozialsysteme“ zurückzufahren, um die Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen.
- Im Zuge der Krise haben sich in entscheidenden Bereichen der Chemie, der Rohstoffproduktion, der Logistik, der Elektronik und im Finanzsektor Zentralisierungsprozesse abgespielt, die in ihren Folgen noch nicht überschaubar sind.
- Die soziale Sicherung selbst ist durch Privatisierungen unmittelbar abhängig von den Bedingungen des Finanzmarktes geworden – und dieser Prozess der Privatisierung geht trotz der Krisen weiter.
Das Interessengeflecht, mit dem sich Widerstand, linke Politik und linke Wissenschaft zu befassen haben, ist komplexer und komplizierter geworden. Es gibt keine einfachen Lösungen. Durch die Art der Krisenpolitik sind die realen wirtschaftlichen Probleme immer wieder durch Umverteilung verlagert worden – in zeitlicher wie auch räumlicher Hinsicht. Auswege, wie etwa es der New Deal der dreißiger Jahre in den USA war, sind weitgehend verbaut. Der New Deal vereinigte finanzpolitische, wirtschaftspolitische, gewerkschaftspolitische, strukturpolitische und sozialpolitische Aspekt gleichermaßen. Das machte auch eine partielle Entwertung von Kapital und einen Innovationsschub als Neuanlagesphäre von Kapital möglich. Sie schuf gleichzeitig neue Spielräume für Gewerkschaften, linke und soziale Bewegungen. In diesen Spielräumen entwickelten sie neue Organisationsformen. Es handelte sich beim New Deal so nicht um eine konsistente Strategie, sondern um einen Suchprozess, der notfalls auch gegen bestimmte Kapitalfraktionen durchgesetzt wurde. Die jetzige Situation ist damit nicht zu vergleichen.
Auf der einen Seite ist die Situation offen – es ist unklar, wo in einem derartigen Interessengeflecht zu welchem Zeitpunkt Gemeinsamkeiten verschiedener Akteure entstehen, die eine bestimmt Richtung in der Politik durchsetzbar machen. Auf der anderen Seite schließt sich das Feld der Möglichkeiten. Der bisher beschrittene Weg deutet auf langfristig repressive Formen der Krisenpolitik hin. Was bleibt auch, wenn der Staat auf gestaltend-wirtschaftlichem und sozialem Gebiet keine Kompetenz, keine Institutionen und kein Geld mehr hat, besser haben will? Im vergangenen Sommer skizzierte das IfG folgende grundsätzlich mögliche Szenarien:
- das Konzept des verschärften autoritären Neoliberalismus, (Richtungskonstanz auf unveränderter Grundlage)
- der Neuen Rechten (Richtungskonstanz auf verengter Grundlage)
- des Grünen Kapitalismus (Richtungsveränderung auf modifizierter Grundlage), und
- des sozial-libertären Green New Deal (Richtungswechsel auf neuer Grundlage)
Es hat im Moment den Anschein, als ob die Verengung auf autoritäre Herrschaftsformen unter brutaler Belastung der Grenzen bürgerlicher Demokratie die beherrschende Tendenz werden könnte. Dafür spricht nicht zuletzt, dass politisch wie auch ökonomisch die Krisenursachen reproduziert werden. Im herrschenden Block selbst ist eine Gegenbewegung kaum spürbar. Die zukünftige Entwicklung hängt somit nicht von Kämpfen im herrschenden Block selbst, sondern von Intensität und Charakter des Widerstandes ab.
Die oben skizzierte institutionell untersetze Neuverteilung von Macht verändert die Bedingungen für das Handeln aller sozialen und politischen Kräfte grundlegend. Alte Thesen, alte Forderungen und alte Organisationsweisen müssen überdacht und überprüft werden.
- Was heißt unter diesen Bedingungen Verstaatlichung von Banken?
- Was bedeutet Abbau von Staatsverschuldung durch Streichung von Schulden, wenn diese Schulden meine Alterssicherung finanzieren?
- Was bedeutet heute Staatsverschuldung, wenn sie zu der normalen Finanzierungsweise staatlicher Aufgaben geworden ist?
- Was bedeutet es, wenn Hauptakteure der Krise wie Fonds und Versicherungen entscheidend für die Alterssicherung breiter Massen sind?
Die durch die Mechanismen der Finanzialisierung vorangetriebene Oligarchisierung findet ihre Kehrseite in einer immer weiter gehenden, unmittelbareren Verstrickung auch der Lohnabhängigen in die Gesetze des Finanzmarktes.
Vor diesem Hintergrund erzwingt jede Lösung, die auf eine Entwertung von Kapital und eine andere Art der Umverteilung hinausläuft
- eine grundlegende Reorganisation sozialer Sicherung einschl. Beschäftigungspolitik
- eine aktive Strukturpolitik, die den Erfordernissen eines sozialökologischen Umbaus wie auch einer ausgeglichenen wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der EU entspricht
- eine globale Umverteilung hin zu den Ärmsten der Welt.
Dies sind keine neuen Forderungen – werden sie aber unter den neuen Bedingungen zugänglicher? Bisher jedenfalls nicht.
Es gibt weniger denn je einfache Lösungen. Jeder Schnitt in die krisenhafte Kapitalverwertung bedeutet in Europa auch in Schnitt in die eigene Lebensweise. Die Stärke des „Nein“ zur gegenwärtigen Politik bedeutet nicht, dass derartige Folgen einer wahrhaften Konsolidierungspolitik unbedingt in den Massen akzeptiert werden. Eine nachhaltige Krisenlösung bedeutet für uns auch, die Rechnung für eine unter globalen Gesichtspunkten verheerende Lebensweise zu zahlen. Das wird auch unter den Lohnabhängigen Umverteilungen nach sich ziehen, die nicht unbedingt auf Akzeptanz stoßen werden. Das NEIN muß daher mit Lernprozessen in den Bewegungen selbst verbunden sein, die tragfähigen Alternativen Durchbruch verschaffen. Zentral dabei ist die Verbindung von außerparlamentarischem Protest, gestaltendem Handeln und parlamentarischer Aktion – und dies auf europäischer Ebene. Es geht nicht nur um ein Nebeneinander, sonder um eine gegenseitige Verstärkung. Diese gegenseitige Verstärkung wird es nur geben, wenn die Massen (und nicht nur AktivistInnen) in ihrem Handeln Protest und Anders-Handeln verbinden können. Wenn die Achse der Macht der Oligarchie zwischen Staatshaushalt und Finanzmarkt läuft, muss hier auch die Achse von Widerstand und Gestaltung liegen – etwa zwischen Schuldenaudit und Bürgerhaushalt. Eines ohne das andere wird erfolglos bleiben. Eine solche Verbindung bedeutet tatsächlich „Politisierung der Schuldenkrise“. Eine nachhaltige Alternative kann nur eine demokratische sein, nur sie wird eine breite Akzeptanz des erforderlichen Schnitts hervorbringen – auch eine linksautoritäre Lösung wird die Probleme nicht lösen können. Die Linke wird nur Bewegungsspielraum gewinnen, wenn sie die Massen durch Wahrhaftigkeit gewinnt – nicht durch die Präsentation einfacher Lösungen.
In der Geschichte der Arbeiterbewegung gab es mit der Bewegung für den Achtstundentag einmal solch eine globale Forderung. Diese Forderung war nicht nur ein Kampf gegen das Kapital, sondern auch ein Konsens unter den Arbeitern, sich nicht um jeden Preis und auf Kosten anderer Arbeiter zu verkaufen. Werden die heutigen Bewegungen in der Lage sein, daran anzuknüpfen? Werden sie einen kulturellen Raum bieten können, der eine solche Gemeinsamkeit vermittelt?
Wenn wir also heute über EU und Krise diskutieren, diskutieren wir auch über Selbstveränderung. Und die wird in dieser Situation das Entscheidende sein. Dafür müssen wir uns unseren Schwächen stellen.
Zugespitzt heißt das auch: Wenn unsere Forderungen und Konzepte keine Akzeptanz in den Massen finden, dann sind die Forderungen und Konzepte in diesem Moment und unter den gegebenen Umständen offensichtlich nicht den Problemen adäquat. In diesem Falle haben wir nicht, wie Rosa Luxemburg forderte, mit lebendigen Kräfteverhältnissen gerechnet, sondern mit erdachten. Ich hoffe, dass wir mit diesem Workshop problemadäquaten Forderungen und Konzepten näher kommen und so als WissenschaftlerInnen einen spezifischen Beitrag für die Akzeptanz und damit für die Wirksamkeit der linken Bewegungen unter den Massen befördern.