Die vielleicht ausdrucksstärkste und wichtigste Passage in diesem Buch ist gleich die erste, direkt auf dem Umschlag. Sie lautet: «Proteste müssen stören, sonst wären sie wirkungslos. Wenn Störungen in den öffentlichen Raum ausgreifen und sich dort festsetzen, wenn sie ihn dauerhaft blockieren, verteidigen, schützen oder erobern, dann entsteht Protestarchitektur.»
Proteste und ziviler Ungehorsam materialisieren sich weltweit oftmals in Barrikaden, Türmen, Camps und Zeltstädten, die errichtet werden. In der Regel werden sie von den Repressionsorganen zerstört, und werden so im nachhinein zu «temporärer Architektur». Für die sozialen Bewegungen haben sie aber oftmals einen bleibenden Wert, werden zu Symbolen, seien es die Barrikaden in der Hamburger Hafenstrasse, die Baumhäuser und Tripods in Hambach und später Lützerath, die Zelte und Bauten auf dem Maidan in der Ukraine oder die vielen Bauten des «arabischen Frühlings» oder auf dem Tahrir-Platz.
Protestarchitektur ist als ein Lexikon mit insgesamt 176 deutsch-englischen Einträgen und 13 auführlicheren Fallbeispielen konzipiert. Diese Case Studies sind länger und beinhalten jeweils 12 Fotos und aus dem deutschsprachigen Raum die Besetzungen in Gorleben, an der Startbahn West, im Hambi, in Lützerath und in Lobau bei Wien. Das Buch ist eine internationale Bestandsaufnahme zur Architektur des Protests. Sie präsentiert diese in all ihrer Vielseitigkeit. Die vorangestellte Chronologie porträtiert 68 Protestbewegungen seit 1830 (!) und ihre architektonischen Manifestationen auf je einer Seite und mit einer Abbildung.
Das äusserst preiswerte Buch erscheint aus Anlass einer Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt/Main, die dort noch bis 14. Januar 2024 zu sehen ist und danach nach Wien in das Museum für angewandte Kunst (MAK) wandert (14. Februar bis 25. August 2024). Es gehört in das Bücherregal jedes und jeder an Protest interessierten Menschen.
Oliver Elser, Anna-Maria Mayerhofer, Sebastian Hackenschmidt, Peter Cachola Schmal, Jennifer Dyck und Lilli Hollein (Hrsg.): Protestarchitektur. Barrikaden, Camps, raumgreifende Taktiken 1830–2023; Park Books, Zürich 2023, 528 Seiten, 230 farbige und 84 s/w-Abbildungen, 19 Euro.
Bild: Hongkong 2019, © Studio Incendo, 15. November 2019
Nachtrag: Richard Rohrmoser hat die Ausstellung am 18.11.23 auf HSozKult besprochen. Seine mit Bildern versehene Ausstellungskritik ist hier zu finden.