Etwas, was nicht geschehen ist oder womöglich nie geschehen wird
Die gebräuchliche Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lässt uns leicht vergessen, dass Zukunft immer und überall gegenwärtig ist. Seit Jahrzehnten veranlasst die absehbare Erschöpfung der fossilen Energievorräte, zu regenerativen Energien überzuwechseln. Um Nuklearkatastrophen in der Zukunft zu verhindern, wird heute eine Energiewende angegangen. Mit der Aussicht auf Profite in der Zukunft wird jetzt investiert, Termingeschäfte werden auf Zukunftsmärkten gehandelt, Kredite werden aufgenommen und „später“ als Schulden abgezahlt – oder auch nicht. Um das Auftreten terroristischer Anschläge oder das Aufkommen von Machtkonkurrenten in der Zukunft zu verhindern, werden präventiv Länder wie Irak oder Afghanistan okkupiert. Um den Wandel des Klimas durch Schadstoffemissionen zu mäßigen, werden heute Emissionsrechte gehandelt. Um die Verbreitung von Seuchen wie der Schweine- oder Vogelgrippe zu verhindern, werden jetzt riesige Tierbestände vernichtet. Wir antizipieren unser Ableben und schließen heute Verträge und machen Testamente. Wir phantasieren gar über das hiesige oder jenseitige Weltende oder ergeben uns im Telos göttlicher Omnipotenz oder eiserner Bestimmtheit. Und, nicht zuletzt, mit Bezug auf bessere, gerechtere, postkapitalistische oder nachhaltige Zukünfte gibt es heute Kämpfe, Aufstände, Rebellionen oder Revolutionen – und es gibt natürlich die Kämpfe darum, dass alles so sein wird, wie es heute schon ist. Kurz: es wird jetzt vorwegnehmend und antizipierend gehandelt, investiert, gebombt, okkupiert, prophezeit, erhofft, imaginiert und ausgerottet im Namen von etwas, was nicht geschehen ist oder womöglich niemals geschehen wird: der Zukunft oder der Zukünfte. Diese wird Ursache und Rechtfertigung eines Handelns hier und heute.
1) Wir fassen also auf irgendeine Weise Zukunft (indem wir zum Beispiel über sie sprechen oder sie zum Handlungsmotiv machen),
2) wir machen sie damit gegenwärtig (präsent) und
3) wir reagieren etwa durch Programme oder politisches Handeln oder Entscheidungen auf diese Präsenz.
Auch wenn Zukunft als geschichtslos, als einfache Fortsetzung präsentiert wird, der jeder Unterschied zur Gegenwart abgeht („There is no alternative“), ist dieser Dreischritt vorhanden.[1]
Fassung der Zukünfte
Viele der eben genannten Beispiele gelten als Bedrohungen, als potentielle Katastrophen. Sie sind massenhaft Bestandteil unseres Alltagsbewusstseins – mal mehr, mal weniger. Dabei steht nicht nur einfach die Gegenwart am Rande eines Unheils. Wieder liegt hier eine folgenreiche Mehrfachoperation zugrunde:
a) Das zukünftige Desaster wird in der Gegenwart ausgebrütet
b) Es kann durch Vorboten, Anfänge, Einstiege im Heute erkannt werden und
c) Da diese selbst sich in einem komplexen, heterogenen, diversen, ständig neu zusammengesetzten Jetzt auf nichtlineare Weise entfalten (also emergent sind), ist die Zukunft offen.
Auch wenn wir Sicherheit unterstellen, gehören daher zu unseren Bezugnahmen auf Zukunft vielfach Unsicherheit und Unbestimmtheit oder Formeln wie „Die Zukunft ist offen“. Einst hatte die Kapitalökonomie das aus Naturzyklen und biologischen Rhythmen gesetzte Zeitregime durch das Regime der linearen und kontinuierlichen Zeit ersetzt. Mittlerweile hat es diese Ökonomie wieder durch ein Regime diskontinuierlicher Zeit ersetzt. Schlechten Überraschungen in der oder durch die Zukunft kann man prinzipiell nicht aus dem Weg gehen, man kann sie bestenfalls minimieren (Karl Schroeder)[2]. Zukunftsfähiges Handeln bedeutet dann, den zu bearbeitenden Zukunftsraum radikal zu schrumpfen und damit das Einflussgewicht des eigenen Handelns zu reduzieren. Oder sucht man sich durch vielfältiges Handeln auf vielfältige Zukünfte einzustellen – jene, die (wie sehr auch immer) unwahrscheinlich sind, dabei eingeschlossen. Dieses Muster des Vielfachhandelns ist nicht neu – das Zukunftsdenken der Militärs hat ebenso wie die Spekulation an Finanzmärkten seit jeher mit Überraschungen gearbeitet und Zukünfte berücksichtigt, die keine Fortsetzung der Gegenwart und der Häufigkeit und des Gewichts gegenwärtiger Ereignisse, sondern eine unvorhersehbare Neuheit sind. Ulrich Beck hat daher von der „Unkalkulierbarkeit“ der Risiken der Moderne gesprochen.
Präsenz der Zukünfte
Jeder von uns kennt die Praxis, durch Kalkulation Zukünfte präsent zu machen, sie gleichsam in die Gegenwart hineinzuziehen. Da werden Trends identifiziert, analysiert und womöglich fortgeschrieben oder es werden das Gewicht und die Nachhaltigkeit von Einflüssen in Zeit und Raum bewertet („impact assessment“). Ohne data mining kommt Kalkulation nicht aus. Kurz: es wird gemessen und Zukünfte werden in Zahlen ausgedrückt und uns in Tabellen, Grafiken oder Schaubildern, Karten oder Chronologien vergegenwärtigt. Risikoeinschätzungen oder Kosten-Nutzen-Kalküle sind typische Formate, die solche Kalküle dann handhabbar machen, um Macht über die Zukünfte zu erlangen. Ein Beispiel sind die Katastrophenmodelle der Versicherungsindustrie. Auch Unkalkulierbarkeit etwa von nuklearen Katastrophen und daraus resultierende Reaktionen kann sich hieraus ergeben.
In den letzten Jahren sind eine Unzahl solcher Road Maps, Trendanalysen, Szenarien, Prognosen, Weißbüchern usw. publiziert worden. Die methodischen Grundanlagen dieser Studien ähneln sich häufig. Entwicklungen einzelner Sachverhalte der letzten Jahre (oder Jahrzehnte) werden trendanalytisch identifiziert und zuerst auf kurze Zeiträume hin fortgeschrieben – oft recht linear. Hier kommt eine Fülle von quantitativen Indikatoren in Ansatz. Zumeist werden eine gute Handvoll „Megatrends“ als Einflussgrößen auf diese Sachverhalte herangezogen, wobei man sich ziemlich sicher ist, wie sich diese Megatrends entwickeln und wirken. Solche Trends sind etwa Wirtschaftswachstum, Energie / Öl, Technikentwicklung, Urbanisierung, Klimatrends, Ressourcenknappheit, Ernährung, Landverbrauch. Besonders beliebt ist die Rede von Demografie („Demographic change is transforming the EU with inevitable consequences“ – formuliert das Verkehrs-Weißbuch 2010 der Europäischen Kommission). Die Zustände werden extrapoliert auf 2020, 2030 oder 2050 (ganz selten 2040, kaum 3000). Es folgt eine normative Bewertung und Varianten dieser Zustände werden entsprechend strategisch gesetzter alternativer Zielvorstellungen („strategic visioning“) formuliert und als zentrale Leitideen von Szenarien verdichtet, an die Entwicklungspfade oder road maps gekoppelt werden. Die Szenarien prägen einzelne Merkmale und Trends besonders aus und da beginnt sich dann auch die Einfalt solchen Denkens sich auszuprägen. Wirtschaftsszenarien heißen: „Stagnation“, „Wachstum“, „Starkes Wachstum“; oder Internationale Beziehungen werden geordnet nach: „Zerfall“ – „Weiter So“, – „Kooperation“ – „Konflikt“). „Rückgang“ oder „Krise“, gar „(Trend-)Brüche“ und erst recht „Systemwechsel“ sind eher seltene Fälle im Kapitalismus. Trends werden auch hier in aller Regel als etwas gedacht, was sich verstärkt und ausdehnt. In diesem Stadium kommt dann in der Regel „Plausibilität“ statt „Wahrscheinlichkeit“ ins Spiel und es wird mit Relevanzen operiert: es interessieren Großereignisse („major events“) und Schlüsselfaktoren, auf die einzustellen sich lohnt[3].
Doch Kalkulationen sind nur ein Ausschnitt aus dem reichen Schatz an Operationen, durch die wir Zukünfte präsent machen. Wir haben zu jeder Zeit in unserem Alltagsleben zu Zukünften Einsichten, konstruieren Wege oder Szenarien, modellieren oder erzählen, schreiben Science Fiction, entwerfen Bilder, Visionen oder Utopien, formulieren Kritiken, Hoffnungen oder Befürchtungen, planen, träumen, wünschen oder spielen sie. Zukünfte werden da nicht kalkuliert, sondern vorgestellt, imaginiert, simuliert und gespielt. Nicht selten gehen Kalkulationen in solche Imaginationen ein – ein Beispiel sind die beliebten und einst von RAND (der Urmutter aller militärischer Think-Tanks) erfundenen Szenarien, die meist mit Bildern, Geschichten, imaginären Fallstudien oder Daten Zukunftswelten oder Entwicklungspfade ausmalen und auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen machen. Zukunftswelten werden gespielt, verkörpert, geprobt oder simuliert, ob es um Kriegsspiele, Automation oder Stadtplanung geht. Nicht Zahlen, sondern das Spiel mit dem „Als-ob“ macht die Zukunft präsent. „Als ob“ Kriege von Robotern in Städten geführt werden. Kommende Erfahrungen werden fingiert. Zukunft wird sozusagen geübt. Solche Imagination von Zukunft ist oftmals weitaus dringlicher als die Zahlenwelt der Trendkalkulationen.
Zukunftsfolgen
Allerdings: jede dieser besonderen Zukünfte wird zwischen einem hier und jetzt und einem dann und dort aufgehoben. Sie sind präsent aber zugleich abwesend weil sie nicht geschehen sind und sich womöglich nie ereignen. Sind sie gefasst (oder etwas begriffen) und präsent, dann können sie ungeheuer folgenreich sein. Ihre Präsenz orientiert unser Handeln, bestimmt es zuweilen, hinterlässt Spuren.
Vorsorge
Der zukunftsfähige Mensch betreibt etwa Daseins-Vorsorge. Lebt er an der Küste, dann schüttet er womöglich einen Damm auf, denn er geht vom – vielleicht wissenschaftlich unbewiesenen – Fall eines Tsunami aus. Und er beginnt früh damit und nicht erst, wenn ein Erdbeben die Wellen irreversibel in Gang gesetzt hat. Ein anderes Beispiel wäre der Klimawandel – die Unsicherheiten über Kosten, Umfang, Raum- und Zeitdimensionen seiner Wirkungen sind krass, so dass das Gewicht solcher Szenarien steigt, die mit Kippunkten und Systemwandel argumentieren. Ohne Vorsorge wird die Sache wirklich teuer. Auch hier geht es darum, Entwicklungen zu beeinflussen, bevor sie irreversibel werden. Krankheits- oder Altersvorsorge sind weitere Beispiele, ebenso Moratorien der Technikentwicklung. Schlechte Zukünfte sollen verhindert werden.
Prävention
Davon zu unterscheiden ist, was wir aus den Zeiten der Bush-Administration kennen: die Doktrin der „preemption“ („Zuvorkommen“, „aktives Verhindern“) und vor allem der „prevention“ („Vorbeugen“, „Verhüten“). Nach 9/11 argumentierte die Bush-Regierung mit einer neuen Spezifik terroristischer Angriffe. Es gilt eine Bedrohung in statu nascendi zu beseitigen, bevor sie signifikant ausgeprägt ist, beispielsweise durch die „defense-by-denial“ Strategie der präventiven Zerstörung der Rüstungs- und Kriegstechnikressourcen eines Kontrahenten. Man bombardiert also die Nuklearanlagen des Iran lange vor ihrer Fertigstellung. Mehr noch: terroristische Angriffe erfolgten ohne Ankündigung und ohne Vorbereitung, weshalb eine unmittelbare Bedrohung faktisch nicht existiere und daher auch nicht erkannt werden könne. Hier geht es darum, zu handeln, bevor ein Sachverhalt eingetreten ist. Folglich gilt der Angriff auf Verdacht als zukunftsfähig. Zur Aggression, dies am Rande, gibt es hier keinen Unterschied mehr. Hier sollen Zukünfte auch verhindert und gleichsam aus der Welt geschaffen werden, bevor man sie überhaupt gefasst hat. Und es sollen aber auch deutlich andere etabliert werden.
Vorbereitung
Während Vorsorge und Präemption (also aktives Verhüten) das Eintreten einer Zukunft verhindern wollen, geht es bei der „Vorbereitung“ („preparedness“) darum, sich auf die Folgen und Effekte des Eintretens einer Zukunft einzustellen. Technische Hilfswerke, Zivilschutz oder Katastrophenschutz sind klassische Instrumentarien einer solchen Notstands-Politik, die Sicherung „kritischer Infrastrukturen“, der Kommunikations- oder der Geldflüsse sind neuere Beispiele. Systeme sollen so konfiguriert werden, dass sie sich den möglichen Zukunftsfolgen anpassen können. Es geht um die Sicherung von Beständen.
Wozu das alles? Gefasste Zukünfte als Präsenz in gegenwärtiger Lebenspraxis durch Vorstellung, Kalkül, Imagination, Visionen, Utopien, aus der praktische Aktionen und Apparate der Vorsorge, Vorbeugung und Vorbereitung resultieren – das alles hat den Zweck oder die Funktion einer Landnahme des abwesenden Zukunftskontinents, einer Aneignung und Bemächtigung der Zukünfte. Future governing heißt üblicherweise die verharmlosende Formel.
Bemächtigung
Dass also und wie Zukunft gefasst und umrissen wird („framing“), ihre Präsenz in die Gegenwart kommt und sie dann bearbeitet wird – das gibt es fast immer und überall. Klassen, Gesellschaften, Staaten, Gewerkschaften und sogar Lehrer kämpfen um Zukunft. Daher verdichtet sich wie wenig Anderes diese Vergesellschaftung in Arrangements der Macht, Machtlosigkeit und Ohnmacht. Macht nun ist nicht alles, aber das Wesentliche von Politik. Sie kann bestehen in der Durchsetzung eines Willens, in der Kontrolle über Situationen, Akteure und Kontexte, in der Öffnung oder Schließung von Optionen und Handlungskorridoren. Macht legt fest – das ist ihre Funktion. Zukunftsmacht zu (re-)präsentieren und zu regieren will also die Durchsetzung von Festlegungen. Das ist ein grundsätzlich prekäres Arrangement von Macht, soll doch eine Festlegung erfolgen von etwas, was da und zugleich abwesend ist und sich womöglich nie ereignet. Da aber so viel zu gewinnen ist, können die Akteure der Gegenwartsmacht nicht darauf verzichten, im Kampf um die Zukunftsmacht mitzuspielen.
Folgerichtig ist daher ein wachsendes Feld spezialisierter Politik in der bürgerlichen Zeit (und da im Wesentlichen seit dem Ende des vorletzten Jahrhunderts) auf der Grundlage dieses „Die Zukunft ist immer und überall“ entstanden. Sein Durchbruch vollzog sich mit der militärimperialistischen Konstellation, als die Anfänge strategischer Konzern- und militärischer Langfristplanung einhergingen mit den neuen Kalkulationen des kapitalistischen Sozialstaats. Seine große Dynamik kam dann durch die „Zukunftskonkurrenz“ aus der Sowjetunion, dem realen Staatssozialismus und der globalen Linken, seine kapitalistisch-strategische Verdichtung schließlich zunächst in den 50ern im Nationalen Sicherheitsstaat USA, als der Nuklearkriegstheoretiker Hermann Kahn das „Thinking the Unthinkable“, die Rationalisierung des Atomkriegs also reflektierte und dann in den 60er und 70ern, als ein Schub der Prognosen, der „Zukunftsforschung“ und der Planungs- und Steuerungskonzepte den Beginn des langen Endes des Fordismus begleitete. Nach dem OPEC Öl-Embargo etablierte die Firma Shell mit ihren Energieszenarien ein Paradigma für die multinationalen Konzerne. In der nachfolgenden marktradikalen Zeit seit Ende der 70er ist der Zugriff auf die Zukunft wie nie zuvor privatisiert und dem Markt und seinem homo oeconomicus übergeben worden.
Oft – und erst Recht nach 1989 – ist dies dann als Ende der Geschichte und somit auch als Schließung der Zukunft verstanden worden. Dem widerspricht, dass gerade seit Anfang der 90er Jahre die strategischen Potentiale und Apparate der Zukunftsbearbeitung im Forschungssystem, den Konzernen und Staatsapparaten kontinuierlich und in der Bilanz massiv ausgebaut worden sind. Manche spezialisierte Think Tanks wie die Prognos AG blicken mittlerweile auf Jahrzehnte der „Zukunftsforschung“ zurück. Strategische Forschung und neuerdings gar Transformationsforschung sind selbstverständliche Bestandteile politischer Apparate, wissenschaftlicher Großinstitute und Hochschulen wie auch der Orientierungs- und Planungsabteilungen der Unternehmen geworden. Banken, Beratungsfirmen wie Roland Berger, Booz Allen Hamilton oder Pricewaterhouse (PWC) sind Zentren dieser strategischen Forschung und stehen u.a. seit Mitte des letzten Jahrzehnts förmlich in einem Prognosenwettlauf um die Positionierung der starken Wirtschaftsmächte im Jahr 2050. Die BRD z.B. sackt nach PWC von Platz 5 (2009) auf Platz 9 (2050) ab. Hierzulande betreibt jeder DAX-Konzern strategische Forschung.
Der Ausbau der strategischen Zugriffsapparate betrifft besonders deutlich die klassische Technik- und Produktivkraftforschung, die unter der „foresight“-Etikette intensiviert und internationalisiert wurde. Sie wird deutlich komplexer bearbeitet und die Schwerpunkte haben sich geändert. Zeitforschung spielt eine Rolle, sie schwankt zwischen Effizienzsteigerung und Gefasel. Die neue Prominenz der Umwelt- und Energiefragen etwa, die ein Großteil der komplexen technischen Ressourcen an sich ziehen, ist gut zu erkennen – ein Blick auf die Website des Bundesministeriums für Bildung und Forschung genügt. Umwelt und Energie sind jetzt die absoluten Leitthemen. Auch Mobilität, Ernährung, Gesundheit, Stadt sind profitable Themen. Gerade in der Stadt- und Raumentwicklung haben sich substantielle Residuen der Planungskultur gehalten und die Frage nach Um- und Rückbaupotentialen des städtischen Raums drängt sich in den Vordergrund. Sie bilden neben den strategischen Apparaten des Militärs, der Ökologie, den einschlägigen Abteilungen der Wohlfahrtsökonomie und ein paar Dutzend global agierender Großkonzerne und vor allem Banken die stark durchsetzungsfähigen Visions-, Prognose- und Planungscluster des Gegenwartskapitalismus. Zunehmend werden auch die Felder Bildung und Gesundheit sowie – weiter gespannt – die allmählich kohärentere Care-Ökonomie von meist expansiven, mächtigen, mediennahen, stark verwissenschaftlichten und häufig staatlichen Apparaten repräsentiert, die an der Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus arbeiten. Bis auf den Militär- und Sicherheitskomplex reflektieren sie übrigens durchaus unterschiedliche Interessen aus der Ober- und Mittelklasse.
Überlagert werden diese Cluster aber weiterhin von der „Großrisiken-“ und „Sicherheits– (Militär)“forschung[4] und der Erfassung der globalen ökonomischen und politischen Power Shifts. Sie haben in den institutionellen Verdichtungen der globalen Machtkörper wie der UN, FAO, IEA oder EU, in den nationalen Staatsapparaten der USA, Chinas, Rußlands, Japans und der BRD oder in der Elitenperspektive etwa des Davoser World Economic Forum rapide an Bedeutung gewonnen: die Risiken und Konkurrenzbeziehungen des Kapitalismus werden abgetastet, sog. strategische Schocks werden ausgemacht und um Entwicklungspfade wird gekämpft. Der letzte „Global Risks Report“ des WEF fragt nach ökonomischen, ökologischen, gesellschaftlichen, geopolitischen und technologischen Risiken und stellt auch eine Liste der Top Ten Risks for, geordnet nach Wahrscheinlichkeit und Einflußreichweite. Das US-National Intellligence Council publizierte zwischen 1997 und 2008 vier Reports zu „Global Trends“, welche Vorausschauen der Veränderungen im globalen Staats-Machtsystem 2010, 2015, 2020 und 2025 entwarfen. Der US Air Force Think Tank RAND gründete 2001 ein Zentrum zur Erforschung von „Longer Range Global Policy“ und das „Strategic Studies Institute“ (SSI) der US-Army bearbeitet „Long Range Planning and Forecasting“, „Szenario Planning“ und „Future Battlespaces and Scenarios“. In England hat das Development, Concepts and Doctrine Centre (DCDC) des Verteidigungsministeriums mittlerweile den 4. Band im Rahmen seines „Global Strategic Trends Programme 2007-2040“ veröffentlicht. Der ist interessant.
Zum Abschluss also: Zukünfte werden gefasst („ergriffen“), auf vielfache Weise präsent gemacht und zum Ausgangspunkt von Orientierungen, Handlungen, Organisierung, Institutionen. In jedem Fall geht es um die Bemächtigung der Zukunft. Die Linke spielt dabei mit, sie lässt sich – ständig – auf Zukunft ein und arbeitet an ihrem Möglichkeitssinn (Musil). Da ist sie allen voraus. Aber kaum jemand studiert, wie die Apparate der Zukunftsbemächtigung arbeiten.
Beitrag auf der Villa Rossa 9 am 22.8.2011
[1] Dazu und im Folgenden siehe den eindrucksvollen Beitrag von Ben Anderson: Preemption, precaution, preparedness: Anticipatory action and future geographies, in: Progress in Human Geography 6/2010 S.777-798.
[2] Exzellenter SF-Autor und Experte der strategic foresight, s. www.antipope.org/charlie/blog-static/2011/07/beyond-prediction.html. Dass sich der Überraschungsraum der Zukünfte nur minimieren lässt, zeigt der Hochgeschwindigkeitshandel an den Börsen, über den mittlerweile mehr als die Hälfte aller Aufträge abgewickelt wird. Bei ihm wird im Millisekundentakt das Verkaufsverhalten der Konkurrenz abgetastet.
[3] Vgl. die US-Homeland Security Presidential Directive on ‘National Preparedness’: ‘‘In a world of evolving threat and terrorist tactics, it is not possible to identify the exact events for which we need to be prepared at any and every given time. Instead, utilizing a Capabilities-Based Planning process enables the identification of capabilities that will enable us to prevent, respond to, and recover from any major event. The National Planning Scenarios present a standardized set of plausible scenarios for major events or Incidents of National Significance and provide the foundation for development of capability requirements”. (DoHS, 2005, p. 5). Die 15 Szenarien sind: improvised nuclear device; aerosol anthrax, pandemic influenza, plague, blister agent, toxic industrial chemicals, nerve agent, chlorine tank explosion, major earthquake, major hurricane, radiological dispersal device; improvised explosive device, food contamination, foreign animal disease, cyber attack.
[4] Matt Carr: Slouching towards dystopia: the new military futurism, in: Race & Class 3/2010 S.13-32
[…] der Tagung finden sich auf der Website der veranstaltenden Stiftung GegenStand bzw. dem mehring1-Blog der […]
verschwörung der Gegenwart gegen die Zukunft