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Welche politische Krise?

verbirgt sich da eigentlich hinter dem ungewöhnlich politisierten Symbolspektakel der heutigen Wahl zum Bundespräsidenten? Geht es um eine Krise der politischen Klasse? Der Parteien? des Parteienstaates oder gar des Staates? Albrecht von Lucke etwa lässt in seinem wie immer klugen Beitrag in den neuen “Blättern” 7/10 gleich eine ganze Reihe solcher krisengeschüttelten Gruppen auflaufen. Am Ende ist man sich nicht ganz sicher, wer denn da wie nachhaltig aus der Spur geraten ist. Offenbar geht es nicht nur um einen weiteren kleinen, aber symbolträchtigen Akt in der wohlbekannten “Krise der Repräsentation”, wie sie für das parlamentarische System seit längerem beobachtet wird. Die neuen Standpunkte 22/2010 der RLS gehen der Frage näher nach.

One Response to “Welche politische Krise?”

  1. RN sagt:

    Sehr geehrter Herr Rilling.

    Warum abstrakte Theorien bemüßigen wenn uns der originale, unverstellte Sachverhalt viel weiter bringen kann? Was zeichnet denn nun die Krise der Repräsentation aus? Die Lüge in der Politik.

    Lassen wir Hannah Arendt zu Wort kommen:
    “Geheimhaltung nämlich und Täuschung – was die Diplomaten Diskretion oder auch ‘arcana imperii’, die Staatsgeheimnisse*, nennen-, gezielte Irreführungen und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke kennen wir seit den Anfängen der überlieferten Geschichte. Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik. Wer über diesen Sachverhalt nachdenkt, kann sich nur wundern, wie wenig Aufmerksamkeit man ihm im Laufe unseres philosophischen und politischen Denkens gewidmet hat …

    Die bewußte Leugnung der Tatsachen – die Fähigkeit zu lügen – und das Vermögen, die Wirklichkeit zu verändern – die Fähigkeit zu handeln-, hängen zusammen; sie verdanken ihr Dasein denselben Quellen: der Einbildungskraft. …

    Der Historiker weiß, wie verletzlich das ganze Gewebe faktischer Realitäten ist, darin wir unser tägliches Leben verbringen. Es ist immer in Gefahr, von einzelnen Lügen durchlöchert oder durch das organisierte Lügen von Gruppen, Nationen oder Klassen in Fetzen gerissen oder verzerrt zu werden …

    Das prinzipielle Lügen der Terror-Regime kann erreichen, daß die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit überhaupt aus dem Bewußtsein der Menschen verschwindet. Auf Wahrheit und Unwahrheit kommt es nicht mehr an, wenn das Leben davon abhängt, daß man so handelt, als ob man der Lüge vertraute; dann verschwinden die Tatsachen und ihre Verläßlichkeit völlig aus dem öffentlichen Leben, und damit auch der wichtigste stabilisierende Faktor im dauernden Wandel menschlichen Tuns.

    Zu den Formen, welche die Kunst des Lügens in der Vergangenheit entwickelt hat, müssen wir jetzt zwei neue Spielarten aus jüngster Zeit hinzufügen. Da ist einmal die scheinbar harmlose Form der Public-Relations-Manager in der Regierung, die bei Reklame Experten in die Lehre gegangen sind. Public Relations sind ein Zweig der Werbung …

    Die zweite Spielart des Lügens kommt zwar im täglichen Leben seltener vor, spielt aber eine wichtige Rolle in den Pentagon-Papieren. Hier begegnen wir einem Typ, der in den oberen Rängen der Beamtenschaft nicht selten ist … so treffend berufsmäßige ‘Problem-Löser’ genannt, hat sich die Regierung von den Universitäten und den verschiedenen ‘Denkfabriken’ geholt, damit sie mit Spieltheorien und Systemanalysen sich daran machten die Probleme der Außenpolitik zu lösen. … Im Vertrauen auf ‘Rang, Bildung und Leistung’ logen sie vielleicht aus mißverstandenem Patriotismus. Entscheidend ist jedoch, daß sie nicht so sehr für ihr Vaterland, …gelogen haben, sondern für dessen ‘Image’.
    Trotz ihrer unbezweifelbaren Intelligenz, die von vielen ihrer Memoranden bezeugt wird, glaubten sie auch, daß Politik nur eine Art von Public Relations sei, und wurden so zu Opfern all der absonderlichen psychologischen Vorraussetzungen, die damit zusammenhängen.”

    Zu den Auswirkungen des routinierten Lügens für das politsche Establishment und auf das Verhältnis der Exekutive/Verwaltung zum Bürger beschreibt HA anhand der Situation nach der Veröffentlichung
    der Papiere durch Daniel Ellsberg und die NewYork Times:

    „Wenn die Staatsgeheimnisse die Köpfe der Akteure selber so vernebelt haben, dass sie die Wahrheit hinter ihren Täuschungsmanövern und ihren Lügen nicht mehr erkennen oder sich an sie erinnern, dann wird das ganze Täuschungsvorhaben, wie gut auch immer seine ‚Marathon-Informationskampagnen’ und wie raffiniert ihre Reklamemethoden sein mögen, scheitern oder das Gegenteil bewirken, d.h. es wird die Leute verwirren, ohne sie zu überzeugen. Das Mißliche am Lügen und Betrügen ist nämlich, dass die Wirkung ganz davon abhängt, dass der Lügner und Betrüger eine klare Vorstellung von der Wahrheit hat, die er verbergen möchte. …

    Wie konnten sie nur? …

    … es sieht so aus, als sei der normale Prozess der Selbsttäuschung umgekehrt verlaufen… Die Betrüger fingen mit Selbstbetrug an. Wohl dank ihrer hohen Position und ihrer erstaunlichen Selbstsicherheit waren sie von ihrem überwältigenden Erfolg so überzeugt und der Richtigkeit ihrer psychologischen Theorien über die Manipulierbarkeit von Menschen so sicher, dass sie an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit niemals zweifelten….“ (Zitat Ende)

    Wir finden Parallelen zur aktuellen Situation? Wo man die Niederlage fürchtet wegen ihres öffentlichen Eingeständnis? Wo man zugeben müsste, jahrelang sinnlos Menschen umgebracht zu haben, wegen Irrtümern und Selbstbetrug?

    Welch ein Zufall.

    Und doch gibt es noch Steigerungen, die Abgründe können tiefer sein als damals, das Verhängnis noch umfassender.

    Nehmen wir einmal an, diese Leute lügen heute rein aus ökonomischer und psychosozialer Abhängigkeit, aus Angst vor Job- und Existenzverlust, so wären wir der Diktatur wesentlich näher gekommen. Vertreter der politischen Klasse, die sich Schweigegeboten (z.B. in Fragen von Kriegslügen, Menschenrechten, Kriegsverbrechen) unterwerfen und aus vorrauseilenden Gehorsam – aus Angst vor der Medienöffentlichkeit – eine Sklavensprache gebrauchen, dürften in der totalitären Herrschaft angekommen sein.

    alle Zitate aus:
    Hannah Arendt, Die Lüge in der Politik
    Überlegungen zu den Pentagon-Papieren (1972)
    Aus: Hannah Arendt, In der Gegenwart, S. 322 ff, Piper, 2000 (Hrsg. von U. Ludz)

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