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Eine Rezension von David Salomon

Sascha Regier legt mit seinem auf ein Dissertationsprojekt zurückgehenden Band einen ausgearbeiteten kritischen Ansatz für die politische Bildung vor, den er programmatisch als «staatstheoretisch fundierte soziopolitische Bildung» bezeichnet. Sein Projekt besteht in einer Gesamtdarstellung des Forschungs- und Diskussionsstands kritischer Gesellschaftstheorie mit staatstheoretischem Fokus. Diese Anlage macht das Buch auch für ein Publikum interessant, das mit politischer Bildungspraxis wenig oder nichts zu tun hat: Der Band lässt sich auch als Einführung in die kritische Staatstheorie und Gesellschafstheorie lesen.
Die hegemoniale Position in Politikwissenschaft und politischer Fachdidaktik, gegen die sich Regier richtet, rekonstruiert er als eine letztlich entpolitisierende Wissenschaft ohne tragendes Konzept von gesellschaftlicher Totalität. Unter systemtheoretischem Einfluss stehend werde «primär vom politischen System und nicht vom Staat gesprochen» (S. 38). Im Horizont eines – als normative Position weitgehend unreflektiert gelassenen – Liberalismus reproduziere man die These naturwüchsiger Trennungen von öffentlich und privat, Gesellschaft und politischer Sphäre und verliere so nicht nur die konstitutive Interdependenz und Verschränkung von politisch-rechtlicher Steuerung und kapitalistischer Ökonomie aus dem Blick, sondern trage zudem dazu bei, die Herrschaftsverhältnisse der antagonistischen Klassengesellschaft unsichtbar zu machen. Indem der Demokratie unterstellt werde, ein neutrales Medium der Herstellung von »Allgemeinwohl» zu sein, werde zudem der Demokratiebegriff selbst auf ein liberales Minimalmodell reduziert. Dies gelte insbesondere für die Fachdidaktik: «Ansätze radikaler Demokratietheorien oder Sozialer Demokratie […] werden in der hegemonialen Politischen Bildung regelmäßig ausgespart. » (S. 74) Demgegenüber stellt Regier unter Rekurs auf die marxistische Historikerin und Demokratietheoretikerin Ellen Meiksins Wood heraus: «Der innere Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft besteht […] zwischen politischer Gleichheit und sozialer Ungleichheit ihrer Gesellschaftsmitglieder.» (S. 104) Die liberale Selbstbeschränkung des Denkhorizonts verurteile hegemoniale Politikwissenschaft und politische Bildung letztlich zur Affirmation.
In seinem staatstheoretischen Hauptteil rekonstruiert Regier acht große theoretische Komplexe bzw. Bezugstheorien seines Konzepts einer Soziopolitischen Bildung: Neben einer Reflexion zum Begriff der Nation und des Nationalstaats, den Regier mit Richard Seng als «institutionalisierten Nationalismus» versteht, wendet er sich hier ausführlich den Vermittlungen zwischen Politisch-rechtlicher Ordnung und kapitalistischer Ökonomie zu: Im Anschluss an Autoren wie Michael Krätke akzentuiert er im Begriff der Politischen Ökonomie gerade das Politische, ohne das eine «marktwirtschaftliche» Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion schlicht nicht möglich wäre. In einem überzeugenden Dreischritt lotet Regier das zeitdiagnostische Potenzial von Regulationstheorie, neogramscianischen Ansätzen der Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) und der materialistischen Staatstheorie von Nicos Poulantzas aus. Dabei arbeitet er die Unhaltbarkeit der These vom Rückzug des Staates im Prozess der neoliberalen Globalisierung heraus. In kritischer Würdigung der Foucaultschen Gouvernementalitätsstudien zeichnet Regier nach, wie die Internalisierung von Herrschaftspraktiken neoliberal begründete Praxen und Verhältnisse absichert.
Das folgende Kapitel zur Rolle bürgerlicher Staatsgewalt zeigt jedoch zugleich auf, dass internalisierte Herrschaftspraktiken nicht der einzige Modus bürgerlicher Herrschaft in der gegenwärtigen Epoche des Kapitalismus sind. Gerade im Strafrecht, von dessen Härten Angehöriger unterer Klassen (oft mit migrantischem Hintergrund) überproportional betroffen sind, zeigt sich Regier zufolge die zunehmende Tendenz einer autoritären Formierung, in der zunehmend «die bis zu den 1970er Jahren vorherrschende wohlfahrtsstaatliche Idee der Rehabilitierung durch Resozialisierung durch die Idee der Vergeltung und Kontrolle zwecks Inhaftierung ersetzt werde» (S. 329). Im letzten Argumentationsschritt bezieht Regier zudem Ansätze einer materialistischen feministischen Staatstheorie ein und rekonstruiert sie gleichermaßen als Alternative zur »Geschlechtsblindheit« hegemonialer Politischer Bildung und einem verengten, letztlich affirmativen Feminismus, der sich lediglich kulturalistisch versteht und seinen Frieden mit der kapitalistischen Produktionsweise gemacht hat. Demgegenüber betont Regier mit Andreas Fisahn: «Auch wenn auf einer theoretischen Ebene die Geschlechterordnung ein von der kapitalistischen Struktur unabhängiges gesellschaftliches Verhältnis darstellt, sind realiter patriarchale Herrschaftsverhältnisse und kapitalistische Strukturen miteinander verwoben. » (S. 349)
In vielen Einzelaspekten fordert Regiers Darstellung auch zu Diskussion und Widerspruch heraus: Dem Charakter der Schrift als Gesamtschau ist geschuldet, dass mitunter konkurrierende Paradigmen (etwa Radikale Demokratietheorie und Theorien Sozialer Demokratie) allzu rasch einander angenähert werden. Zudem überzeugt nicht jede Kritik am marxistischen Traditionsbestand – etwa wenn Regier Engels einen instrumentalistischen Staatsbegriff unterstellt oder Gramsci ein klassenreduktionistisches Verständnis von Hegemonie vorwirft.
Kritisch diskutieren ließe sich auch das harsche Urteil über den Rechtspositivismus, dem er unter Rekurs auf die (ungerechte) Selbstkritik des einstigen Rechtspositivisten Gustav Radbruch vorwirft, die Justiz zahnlos gegenüber dem Faschismus gemacht zu haben (S. 311)(1). Doch diese (exemplarischen) Kritikpunkte zeigen letztlich nur, dass dieser anregende Band bestens geeignet ist, fruchtbare Diskussionen anzustoßen. Sascha Regiers Arbeit ist fraglos ein Meilenstein im Diskurs über die gesellschaftstheoretischen Grundlagen einer kritischen Politischen Bildung, an dem künftig niemand vorbeikommen wird, der sich in diesem Feld bewegt.

Sascha Regier: Den Staat aus der Gesellschaft denken. Ein kritischer Ansatz der Politischen Bildung, Transcript Verlag Bielefeld 2023, 399 S., 44 Euro (oder Open Access beim Verlag)

(1) Nicht zuletzt Peter Römer hat in zahlreichen Schriften zu Hans Kelsen diesem Diktum widersprochen und nachgezeichnet, dass die überwiegend ins Exil gejagten Rechtspositivisten bis zum letzten Augenblick die Weimarer Republik verteidigt haben und das Nazirecht seiner Praxis und seinem Selbstverständnis nach gerade nicht in der Tradition der rechtspositivistischen Schule stand.

Diese Rezension erschien zuerst in Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 138.

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