Feed on
Posts
Comments

Bourdieu hat unser Verständnis von Klassenkämpfen enorm erweitert. Er dehnt dieses Verständnis noch bis zu dem Bereich aus, der sehr weit weg von ökonomischen oder politischen Prozessen zu liegen scheint: dem Geschmack. «Über Geschmack lässt sich nicht streiten», heißt es. Aber Geschmack sei eine Klassenpraxis – die Wahl von Kinos, Kunst, Sport, Friseur, Kleidung, Möbel oder Essen folgt Mustern. Bourdieu führt sie auf einen klassenspezifischen Habitus zurück. Dieser werde in den sozialisatorischen Prozessen der Familie und in der Schule erworben. Die Familie vermittele ein Verhältnis zu den Dingen: zu Räumen, Mobiliar, Kunst, Tischmanieren. Die Schule bestärke diese Aneignungsformen der Kultur durch die Titel, die sie verleiht. Sie bestätige mit Bildungstiteln den Individuen, dass sie mit ihren Praktiken über legitime oder eben nicht so legitime Kultur verfügen. Diese Prozesse der Ausbildung des Habitus seien langwierige Arbeit und erforderten Ressourcen – Bourdieu zufolge ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital. Darauf gestützt finde ein allseitiger Kampf über das statt, was als legitim Kultur gilt: welche Schulen, welche schulischen Titel, welcher Sport, welche Berufspositionen als «hoch» oder «niedrig» gelten. Es sei ein kontinuierlicher Kampf der Klassen um die Klassifikation.

Der Geschmack trage dazu bei, dass die Individuen von sich aus, bestimmt durch ihre körperlichen Neigungen, genau den Platz einnehmen, der ihnen in der Klassenordnung zukommt: Das Bürgertum erneuere seine Herrschaft durch den Geschmack der Distinktion, der es von Kleinbürgertum abrückt, das immer danach strebe, bürgerlich zu sein, aber nicht über eine ausreichende Menge an den herrschenden Kapitalsorten verfüge, um jemals jenen hochkulturellen Lebensstil zu erreichen. Das Bildungsstreben, so zeigt Bourdieu, das seit den 1960er Jahren eingesetzt hat, betrügt mehrere Generationen des Kleinbürgertums um den Erfolg des versprochenen Aufstiegs. Der herrschenden Klasse sei es gelungen, die Reproduktion ihrer Herrschaft durch die kulturellen Einrichtungen hindurch zu sichern und das Kleinbürgertum auf Trab zu halten, während die Arbeiter*innen sich in die Notwendigkeit der alltäglichen Not fügen.

Zu Gast ist in dieser Folge Franz Schultheis, Seniorprofessor für Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen und Präsident der Pierre Bourdieu-Gesellschaft. Er hat lange mit Pierre Bourdieu zusammengearbeitet und viele von dessen Schriften auf Deutsch herausgegeben.

Zum Weiterlesen:
Mario Candeias (Hrsg.):
Klassentheorie – Vom Making und Remaking
Argument Verlag 2021
Kapitel 4.3, Seite 292ff: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede: «Der Habitus und der Raum der Lebensstile» und «Die symbolischen Auseinandersetzungen» (1979)
(Kostenfrei als PDF zum Download)

Alle Folgen des Podcast

Grafik: Porträt des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, @www.zersetzer.com

 

Leave a Reply

You must be logged in to post a comment.

Facebook IconTwitter IconView Our Identi.ca Timeline