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Die Verhandlung von Diversität im Weltsozialforum [Rezension]

Eine Rezension von Sarah Binz

[1] Was bedeutet «Solidarität» in der Praxis der seit 2001 regelmäßig stattfindenden Weltsozialforen (WSF), bei denen sich Akteur:innen aus sozialen Bewegungen versammeln, um Mittel und Wege alternativer globaler Kommunikation und Zusammenarbeit zu entwickeln? Der Anthropologe Nikolas Schall untersucht diese Frage mit Mitteln der engagierten, eingebetteten Ethnografie: bereits im Vorfeld des WSF 2016 in Montreal nahm er an Organisationstreffen teil, er war in digitale Kommunikationskanäle eingebunden und schließlich bei der Veranstaltung vor Ort aktiv; Feldnotizen wechseln sich ab mit Interviewpassagen, methodologischen und theoretischen Reflexionen. Dies ergibt ein gut lesbares, abwechslungsreiches Buch, was bei Dissertationen nicht immer vorausgesetzt werden kann.

Schalls Umgang mit Solidarität, einem notorisch schwierig zu bestimmenden Forschungsgegenstand, ist pragmatisch-praktisch. So vermeidet er eine normative Definition des Begriffes und kann sich stattdessen ganz den vielfältigen Diskussionen und Praktiken widmen, welche von Akteur:innen des WSF mit Solidarität verbunden werden. Zentral sei für diese ein implizites Verständnis von Solidarität als Prinzip des präfigurativen Handelns – das bedeutet, dass Solidarität zunächst in den alltäglichen Umgangsweisen der Organisator:innen und Teilnehmer:innen verankert und gefördert werden soll, etwa über quotierte Redelisten, die Vermeidung von Repräsentation, kooperative Arbeitsweisen, die Festschreibung diskriminierenden Verhaltens und, im Fall beobachteter Übergriffe, Aufforderungen zur Intervention an alle Anwesenden. Solidarität ist damit im Kontext des Weltsozialforums eher als Mittel zu betrachten, um bestimmte Verständigungsweisen zu ermöglichen, denn als ein Zweck im Sinne konkret formulierbarer inhaltlicher Forderungen. Diskurse und Praxisformen, wie Schall sie schildert, sind denen hiesiger aktivistischer Kreise sehr ähnlich, was vor allem mit dem wenig diversen, überwiegend weißen akademischen Hintergrund fast aller Organisator:innen des WSF zu tun haben mag.

Keine unmittelbare Entsprechung in Deutschland oder Zentraleuropa haben dagegen die komplexen Fragen der Einbindung indigener First Nations in das WSF in Montreal. Schall stellt diesen konfliktbelasteten Prozess und die verschiedenen, sich bisweilen widersprechenden Akteur:innen ins Zentrum seiner Studie, da sich die Fragen nach dem Verhältnis, den Möglichkeiten und Praktiken von Solidarität in Diversität hier besonders drängend stellen. Seine Reflexionen über die Legitimität von Forschung vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit, Hierarchien der Wissensproduktion, Verständigungsschwierigkeiten, aber auch die Chancen solcher Begegnungen machen diese Studie zu einem sehr starken Beitrag zur aktuellen Diskussion über Solidarität.

Nikolas Schall: Solidarität als Praxis – Die Verhandlung von Diversität im Weltsozialforum, transcript Verlag, Bielefeld 2022, 276 S., 45 Euro – Das Buch als PDF hier [2] im Open Access

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