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Entscheidung zur Selbstblockade

Vor der Sommerpause haben sich in Russland die Parteien für die im Herbst stattfindenden Parlamentswahlen in Stellung gebracht. In den vergangenen zwei Jahren ist das Umfeld für alle politischen Akteure noch rauher geworden. Dabei spielen die Anti-Corona-Maßnahmen und der Umgang mit der Pandemie durch Staat und Unternehmer*innentum eine Rolle, aber sie sind nicht die entscheidenden Faktoren. Eine aktuelle Umfrage von Levada zeigt, dass in der Bevölkerung die Ängste bezüglich der Zunahme staatlicher Willkür und Gesetzlosigkeit innerhalb eines Jahres um 9 Punkte von 49 auf 58 Prozent gewachsen sind. Im Jahr 2015 äußerten nur 29 Prozent derartige Ängste. (www.levada.ru/2021/04/21/harakter-i-struktura-massovoj-trevozhnosti-v-rossii/ [1] Die Umfrage wird in deutscher Sprache in den Russland-Analysen Nr. 403 vom 08.06.2021 referiert.) Während die repressiven Momente in der Politik zunehmen, bleibt die wirtschaftliche Situation angespannt; eine Überwindung der Stagnation ist nicht in Sicht. Auch der Versuch, mit dem Regierungswechsel im Januar 2020 und dem neuen Ministerpräsidenten Michail Mischustin einen Durchbruch bei der Modernisierung von Staat und Wirtschaft zu organisieren, scheint (wie schon so oft zuvor) weitgehend gescheitert zu sein. Kurz gesagt – die gegenseitige Blockade innerhalb der herrschenden Oligarchie konnte nicht aufgebrochen werden. Das Zusammenspiel von politischer Repression, starken Positionen der „alten“, eng mit der extraktiven Industrie verbundenen Kreise, schwachen Positionen der innovativen Zweige und einer schwachen gewerkschaftlichen und linken Opposition und kulturellem Konservatismus lähmt die Gesellschaft, lässt jede Neuerung ins Leere laufen oder stellt sie unter den Verdacht der Subversion. Die Sanktionspolitik des Westens und die schwelenden Konflikte an den Grenzen des Landes tun ihr übriges. Das Gleichgewicht der Kräfte ist zu fragil, und auch ein „Durchregieren“ seitens des Präsidenten ist nicht möglich.

Unter diesen Bedingungen hat die Wahl eine nicht zu unterschätzende Symbolkraft. Auch wenn keine der antretenden Parteien sich gänzlich aus dem eigentümlich-korporatistischen, von der Präsidialverwaltung beeinflussten Netzwerk löst, machen die Positionsbestimmungen der Wahlprogramme durchaus verschiedene Ansätze für die Bewältigung dieser Situation deutlich. Sie werden sicher nicht kurzfristig wirken, aber auf lange Sicht deuten sich hier immer mögliche Tendenzen an.

Aktuell sind in der Duma vier Parteien vertreten – Einiges Russland mit 335 Abgeordneten, die KPRF mit 43 Abgeordneten, die Liberal-demokratische Partei mit 40 und Gerechtes Russland mit 23 Abgeordneten. Zwei Abgeordnete sind fraktionslos.

Einiges Russland als „Partei des Präsidenten“ und eng verbunden mit dem Staatsapparat, kann sich informell auf die Ressourcen der Verwaltung stützen. In ihrem Umfeld existieren Jugend- und andere Verbände, die ihre Positionen in der Gesellschaft stützen. In einem Interview mit dem Kommersant (www.kommersant.ru/doc/4837620 [2]) hob der Parteivorsitzende, Ex-Präsident und Ex-Ministerpräsident Medwedew die Bedeutung der direkten Kontakte mit Regierung und Präsidenten in der Vorbereitung parlamentarischer Entscheidungen hervor. Er charakterisiert seine Partei als eine Kraft, die eine „zentristisch-konservative“ Rolle in der Gesellschaft beansprucht. Ziel ist es, eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Duma zu erreichen, wobei die Umfragewerte die Partei zur Zeit bei 30 Prozent sehen. Angesprochen auf das Verhalten der Staatmacht gegenüber protestierenden wiederholte er seine Position aus dem Jahr 2012, dass Proteste natürlich im Rahmen der Gesetze möglich seine – darauf angesprochen, dass die Gesetze aber seitdem verschärft wurden, antwortet er ausweichend. Wofür die Partei eigentlich steht, bleibt unklar, auch wenn man sich die programmatischen Dokumente ansieht. (er.ru/party/program [3]) Klar ist lediglich die starke Bindung an Regierung und Präsident – sie ist die Partei des Status quo. Boris Kagarlitzkij meint, dass die Partei trotz ihres zu erwartenden Übergewichtes und des Faktes, dass die oppositionellen Parteien in wichtigen Fragen oft mit dem Einigen Russland stimmen, so viele Mandate wie möglich erringen müsse, um „alle Bedürfnisse von Lobbygruppen und Gruppen in Oligarchie und Staatsapparat befriedigen zu können.“ (t.me/kagarlitsky/805 [4])

Die Liberal-demokratische Partei bildet unter den Duma-Parteien des rechten bzw. extrem-rechten Flügel. In Programmatik (ldpr.ru/party [5]) und Rhetorik (www.kommersant.ru/doc/4815457 [6]) mischen sich soziale und z.T. extrem-nationalistischen Forderungen mit solchen nach unternehmerischer Freiheit bei Rücknahme von Privatisierungen und nach der Wiederherstellung patriarchaler Familienverhältnisse usw. In gewisser Weise ist sie mit der AfD vergleichbar. Insgesamt sind die Forderungen der Partei miteinander nicht vereinbar. Ihr Ziel ist, die zweitstärkste Kraft in der Duma zu werden. Die populistische Wucht ihrer Agitation lässt die Möglichkeit, die KPRF zu überholen, durchaus offen. Zudem hat die Partei im Zusammenhang mit der Ablösung und Verhaftung des dieser Partei angehörenden Gouverneurs von Chabarowsk S.I. Furgal, die zu massiven Protesten in der Region geführt hatte, wahrscheinlich Ansehen gewinnen können.

Die beiden dem linken Flügel zuzurechnenden Parteien, die KPRF und Gerechtes Russland, werden getrennt antreten. Es wird versucht, sie in Konkurrenz zueinander zu treiben, um die Chancen der Kandidat*innen von Einiges Russland zu erhöhen. Beide hatten im Vorfeld der Wahlen versucht, Bündnispartner*innen im linken und „patriotischen“ Feld zu gewinnen. Die beiden bereits in der Duma vertretenen Parteien werden nicht gemeinsam antreten, sondern, begleitet mit gegenseitigen Beschimpfungen, in zwei Blöcken gegeneinander.

Die KPRF konnte unter anderem die Sergej Udalzov repräsentierte „Linke Front“ (Levyj front) (www.leftfront.org/ [7]) und die hinter Nikolai Platoschkin stehende „Bewegung für einen neuen Sozialismus“ (new-socialism.org/ [8]) für dieses Projekt gewinnen. Die Partei präsentiert sich als „Zentrum der Vereinigung aller links-patriotischen Kräfte“ (www.youtube.com/watch?v=3UIGuU-NxaA [9]) Auf die Frage eines Journalisten was das erste sei, wenn die KP an die Macht käme, antwortete deren Vorsitzender: „Vor allem ist es notwendig alle Bodenschätze den ganzen nationalen Reichtum in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Jetzt dienen sie drei Dutzend Vampiren. Außerdem müssen die grundlegenden Rechte der Bürger wieder hergestellt werden: der Achtstundentag, die Möglichkeit normal zu lernen, geheilt zu werden, das eigene Land und die Welt kennen zu lernen.“ www.kommersant.ru/doc/4856773 [10] Ansonsten stützt sich, soweit dies aus den Parteitagsberichten abzuleiten ist, die Wahlprogrammatik wie auch 2016 auf die „Zehn Schritt zu einem anständigen Leben“. (kprf.ru/party-live/cknews/157005.html [11])

Die Partei Gerechtes Russland vereinigte sich vor einigen Wochen mit Blick auf die Wahlen mit zwei kleineren Parteien. Dabei handelt es sich um die Partei „Für die Wahrheit“ (Za pravdu) und die „Patrioten Russlands“ (Patrioty Rossii patriot-rus.ru/ [12] ). Wie auch die Liberal-Demokraten und die KPRF hat die Partei das Ziel, zweitstärkste Fraktion zu werden. Die Ziele, die in dem aus Anlass der Vereinigung verabschiedeten „Manifest“ formuliert sind, sind von denen der KPRF nur schwer zu unterscheiden. (spravedlivo.ru/10981210 [13])

Wie die Wahlen ausgehen, wird sehr stark davon abhängen, wie groß die Wahlbeteiligung ist und wie es die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition versteht, sie zu kontrollieren. Die Festlegung, dass die Wahl an drei Tagen stattfindet, wird das kompliziert machen. Die allgegenwärtigen Vorwürfe der Kollaboration mit der Präsidialverwaltung, die Unschärfe der Programmatik aller Parteien und die für den Beobachter schwierig zu beurteilende Betonung des Patriotismus in den programmatischen Aussagen machen es schwierig, den Anklang der einen oder anderen Richtung bei den Wähler*innen zu beurteilen. Betrachtet man die politische Landschaft, so entsteht der Eindruck, dass sich innerhalb der Lager Blockaden eher verstärken als abschwächen. Patriotismus und Nationalismus können in dieser Konstellation und im Verein mit der westlichen Sanktionspolitik zu den entscheidenden Bindegliedern in der Gesellschaft werden. Dabei können die Linken nur verlieren – dort wie hier.

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