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Lenin in Bishkek: Verblichen, aber nicht vergessen

von Hjal(mar) Jorge Joffre-Eichhorn & Johann Salazar

Oktober 2019. Wann immer wir in den Straßen von Bishkek (zu Sowjetzeiten Frunze  genannt), der Hauptstadt von Kirgisistan, die Menschen vor Ort fragten, wo wir Lenin finden könnten, wurden wir sofort auf das große Denkmal direkt hinter dem Staatlichen Museum für Geschichte verwiesen [Fig. 1]. Dieses Denkmal, welches ehemals auf dem Hauptplatz von Bishkek stand, der als Leninplatz, Площадь Ленина [Fig. 2], bekannt war, wurde erst 2003 – erstaunliche zwölf Jahre nach der Unabhängigkeit Kirgisistans 1991[1] [1]  – zu seinem heutigen Standort verschoben (Cummings 2013: 606). Seitdem wurde der Platz nach der die Stadt umgebende Ala-Too Gebirgskette umbenannt und dort, wo Lenin einst stand, steht jetzt ein Denkmal von Manas [Fig. 3], dem Helden des kirgisischen Nationalepos (Cummings 2013: 613). Seine vorzeiten strategische Präsenz im Herzen der Stadt ist möglicherweise der Grund dafür, warum nur dieses Denkmal des großen вождь, Anführers, der Oktoberrevolution weiterhin im Bewusstsein der Menschen einen Platz hat. Fragten wir hingegen nach anderen Lenins in Bishkek, so konnte sich scheinbar niemand an weitere Denkmäler erinnern und das, obwohl es in der Stadt bis vor wenigen Jahrzehnten noch Dutzende von ihnen gab. Konnte es sein, dass es in Bishkek, ähnlich wie an vielen anderen Orte in der ehemaligen Sowjetunion, so zuletzt 2014 die Ukraine, zu einem Prozess der Entleninisierung gekommen war und deshalb keine Spuren von ihm mehr zu finden waren?

Wenn dem so wäre, dann dürfte auch dieser Lenin nicht mehr existieren und auch dürften zu Füssen dieses 10 Meter großen, 20 Tonnen schweren Wladimirs keine frischen Blumenkränze liegen. Stattdessen führt er uns weiterhin mit seiner weit ausgestreckten, edlen, einige werden wieder sagen blutbefleckten, aber unzweifelhaft unermüdlich arbeitenden rechten Hand in die glorreiche Zukunft, die sein Lehrer Marx im dritten Band des Kapitals verkündete: das Reich der Freiheit. Wir waren überzeugt, dass, wenn wir genau genug hinschauten, wir mit Sicherheit noch zusätzliche Lenins finden und sie auf frischer Tat ertappen würden, wie sie ihre geduldige Arbeit fortsetzten, um den Arbeitern politisches Wissen zu vermitteln, [indem] die Sozialdemokraten in alle Klassen der Bevölkerung gehen, [und] die Abteilungen ihrer Armee in alle Richtungen aussenden.“ (Lenin 1902: 240).

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Fig. 1

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Fig. 2

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Fig. 3

Dabei wussten wir von einigen vorherigen Besuchen in Kirgisistan, dass es eines der wenigen noch verbleibenden Ländern der Welt ist, in dem es in fast jeder noch so kleinen Stadt ein Denkmal zu Ehren von това́рищ (Genosse) Uljanow gibt. Wir machten uns also guter Dinge auf, die Straßen Bishkeks, der Stadt multipler Modernen – Sowjetisch, Westlich, Indigen – “in alle Richtungen” zu erkunden, schließlich war unser Anliegen, kirgisische Denkmäler Lenins für ein Buchprojekt zur Feier seines 150. Geburtstags 2020 zu dokumentieren. Und wir fanden dann auch recht schnell weitere Lenins, wenn auch mit etwas Glück. Es geschah an unserem ersten Tag: Wir besichtigten gerade den herrlich sperrigen, im Sozrealismus-Stil erbauten Sportpalast Kozhomkul als uns die Idee kann, einmal durch das bullaugenförmige Schlüsselloch einer Hintertür zum Hof des Gebäudes zu lugen [Fig. 4]. Dort entdeckten wir zu unserer großen Überraschung und Freude einen untypischerweise schläfrig herumstehenden, zwei Stockwerke hohen Lenin, der ohne ihn umringende jubelnde Massen, dafür aber umgeben von Sperrmüll, abgelaufenem Baumaterial [Fig. 5] und einem ausgebrannten Bus, möglicherweise ein alter ЛАЗ (LAZ), im Schatten eines Nadelbaums sein Dasein fristete. Wir sprangen über den Zaun und versuchten mehr über diesen tragischerweise vom Proletariat getrennten Lenin herauszufinden, aber selbst der Hausmeister des Palastes, der uns beinahe gemeinsam mit Lenin eingeschlossen hätte, wusste weder von wo er gekommen war noch warum er hier stand. Dafür konnte er uns berichten, dass er bereits einige Jahre hier verweilte und dass ihn bis dato eigentlich niemand besucht, geschweige denn versucht hatte, ihn aus diesem weiteren, dieses Mal symbolischen Exil (Sibirien, Kraków, München, London, Genf, Bern, Zürich, Finnland, und jetzt hier. Wie viele noch?) zu retten. Nach dieser unerwarteten Begegnung waren wir überzeugt, dass wir noch mehr Lenins in Bishkek finden würden. Wir müssten einfach weiter darauf loslaufen und dabei die Augen stets offen halten. Dies ist die Geschichte unserer Suche nach einem ganz bestimmten, zunächst auf einem ausgeblichenen Foto entdeckten Lenin, weil er eine bildliche Metapher für den zeitgenössischen Platz Lenins in Bishkek und vielleicht in der gesamten ehemaligen Sowjetrepublik Kirgisistan symbolisiert.

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Fig. 4

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Fig. 5

Wenn man genau hinschaut, spielt Lenin in der Landschaft Bishkeks nach wie vor eine gewichtige Rolle. Sein Name und Abbild sind vielerorts zu sehen, ob als Gravur an anderen Denkmälern und Gebäuden [Fig. 6, 7 & 8], als Namensgeber für Straßen und Stadtteile oder als Andenken in den unterschiedlichsten Formaten, verkauft auf Flohmärkten und Secondhandläden [Fig. 9, 10 & 11 ]. Andererseits scheint speziell bezüglich der Denkmäler in der Bevölkerung eine Art kollektiver Amnesie oder gar allgemeiner Gleichgültigkeit vorzuherrschen. Warum ist das so? Schließlich dürfte die Kultfigur Lenins den Bürger_innen Kirgisistans, als direkte Zeitzeugen der Sowjetunion, doch keinesfalls unbekannt sein, und sie sollten daher doch ein Bewusstsein dafür haben, was dieser für den Sowjetmenschen –  und nicht nur den –  bedeutete bzw. was er je nach dem, welcher Generalsekretär gerade an der Spitze der Partei stand, für die Bevölkerung bedeuten sollte, um die UdSSR im kalten Krieg zum Sieg zu führen (siehe Smart 1990).

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Fig. 6

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Fig. 7

 

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Fig. 8

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Fig. 9

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Fig. 10

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Fig. 11

Während der Vorbereitung auf unsere Initiative beschlossen wir, dass wir zumindest einen Teil der Fotos mit alten Sowjetfotoapparaten[2] [13] auf 35mm Film schießen würden, weil dieses noch heute für Qualität und günstigen Preis anerkannte Material für viele jüngere Fotograf_innen der einzig mögliche, noch dazu körperlich spürbare Kontakt mit dem kommunistischen Projekt darstellt. Daher verbrachten wir ein wenig Zeit damit, um auf Flohmärkten und in Antiquariaten nach alter Fotoausrüstung zu suchen. Gerade die Antiquitätenhändler_innen befinden sich in der besonderen Lage, dass sie ständig mit Menschen in Kontakt treten, die ein spezielles Verhältnis zur Vergangenheit haben, weshalb sie auch selber dieser nicht entkommen können. Im kirgisischen Fall bedeutet dies die Notwendigkeit, Position zu beziehen, was die ambivalente und umstrittene Geschichte der UdSSR im Allgemeinen und Lenin im Spezifischen betrifft. Als wir die zwei Besitzer_innen eines dieser Antiquariate, ein älteres Ehepaar russischer Abstammung und beide ehemalige Angestellte des sowjetischen Staats, fragten, wie sich die junge kirgisische Republik mit der ehemaligen kirgisischen SSR vergleichen ließe, stimmten beide anscheinend spontan überein und sagten, dass die Dinge heute besser stünden. Allerdings wurde schnell klar, dass eine der beiden Parteien, Valentina, der schönen neuen Welt um einiges enthusiastischer gegenüber stand als ihr Ehemann, früher ein respektierter Archäologe, dem sie mit dem Ellenbogen liebevoll in die Rippen stoßend, aufmunterte: “улыба́йся, Александр,” “Lächeln, Alexander.” Ihrer unterschiedlichen Auffassungen bezüglich der UdSSR zum Trotz, luden die beiden uns ein, gerne noch einmal wiederzukommen, um unser Gespräch über das Thema weiter zu vertiefen. Gehorsam stimmten wir zu und wurden so zu privilegierten Zeugen, wie eine Diskussion über das Sowjetexperiment samt der Rolle Lenins, zumindest bei denen, die es direkt erlebt haben, immer noch große Leidenschaften und hitzige, beileibe nicht nur intellektuelle Meinungsverschiedenheiten hervorruft. Um es kurz zu machen, es mag bei den meisten Menschen in Bishkek eine relative Gleichgültigkeit gegenüber den materiellen Überresten Lenins in der Stadt geben, das Interesse über das Vermächtnis von rund 70 Jahren staatlich-sanktioniertem Leninismus zu streiten, ist dafür aber extrem hoch. Wie dem auch sei, diese und ähnliche, äußerst lebhafte Diskussionen veranlassten uns, unsere Suche mit neuer Tatkraft, fortzusetzen und kurz darauf stöberten wir in einem weiteren Antiquariat, spezialisiert auf Andenken der UdSSR [Fig. 12], ein altes Foto einer vor einem Lenindenkmal stehenden Gruppe junger Männer, auf; ohne die Steintafel mit seinem Namen, hätten wir den alten Iljitsch wohl übersehen [Fig. 13].

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Fig. 12

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Fig. 13

Wir begannen sofort, online nach dem Denkmal zu suchen und fanden auch bald ein Foto mit einem augenscheinlich ähnlichem Sockel, im Hintergrund der Schornstein einer Fabrik. In einer Stadt, deren Skyline dank der im Zuge des Zweiten Weltkriegs forcierten Industrialisierung Zentralasiens, von Schornsteinen nur so wimmelt, begannen wir zu zweifeln, ob dieses Denkmal unseren Möglichkeitshorizont nicht übersteigen würde. Trotzdem recherchierten wir weiter und fanden heraus, dass das Foto auf einem Stadtrundgang geschossen worden war. Wir machten die Stadtführerin, die äußerst emsige Rahat[3] [16] ausfindig, die uns von ihrer Dankbarkeit gegenüber Lenin erzählte, weil er die Modernisierung Zentralasiens unterstützt hatte. Darüber hinaus wusste sie uns, zu informieren, dass der von uns so dringend gesuchte Lenin sich in einem Außenbezirk der Stadt in der ehemaligen Kooperative Interhelpo befände, in den 1920er Jahren gebaut von internationalistischen Industriearbeiter_innen und Bäuer_innen aus der Tschechoslowakei. Diese Kooperative hatte sich zuzeiten einen Namen gemacht, weil sie sich massiv der Produktion von akut benötigten Materialien, Waren und öffentlichen Einrichtungen des gerade beginnenden sozialistischen Alltags gewidmet hatte: Ziegelsteine, Textilien, Lederwaren, Metall, Holzwerk, Möbel, Straßen, Krankenhäuser, Schulen und sogar ein paar Regierungsgebäude. Wir erreichten Interhelpo dank Nurkan [Fig. 14], einem Taxifahrer mittleren Alters, der Lenin mit einer Stimme unzweifelhafter Überzeugung als “Gott” beschrieb, was unser wachsendes Verständnis für die Vielfalt an Standpunkten über Uljanow in Bishkek noch verstärkte. Jedenfalls waren wir sehr froh, das er uns auf schnellsten Weg zum heiß ersehnten Lenindenkmal brachte, welches unbewegt in einem ruhigen Vorgarten eines örtlichen Fußballstadions stand, dessen Bau von der gegenüberliegenden zavod, Fabrik, finanziert wurde [Fig. 15, 16 & 17]. Wir konnten unser Glück kaum fassen, machten ein paar Bilder und kehrten in unsere Wohnung zurück.

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Fig. 14

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Fig. 15

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Fig. 16

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Fig. 17

 

 

 

 

 

Als wir kurze Zeit später die Bilder verglichen, mussten wir feststellen, dass es sich doch nicht um das selbe Denkmal handelte: der Sockel war ein anderer und Lenin‘s Körperhaltung war ebenfalls nicht ganz die gleiche. Wie schade, dachten wir uns, es wäre eine tolle Story geworden. Gleichzeitig bedeutete dies aber auch, dass es definitiv noch mehr Lenins in näherer Umgebung geben müsse. Irgendwo versteckt, mit bloßem Auge nur schwer zu erkennen, vereint mit der Landschaft um sie herum. Sie würden uns mit Sicherheit irgendwo auflauern. Also setzen wir unsere Leninjagd fort, inspiriert von der Idee, dass der junge Lenin selbst ein passionierter Jäger von Auerhähnen in der weiten Natur um Alakayevka gewesen war (Trotzky 1969: 166). Langsam und geduldig hielten wir Ausschau nach ihm. Und plötzlich sahen wir ihn. Begleitet von einem kirgisischen Freund, Dastan, der wiederholt kategorisch seine Bevorzugung Leo Tolstois gegenüber Volodya Uljanow ausdrückte, fanden wir einen weiteren Lenin, dieses Mal in einem heruntergekommenen, aber noch immer funktionierenden, zu Sowjetzeiten gebauten sanatorium (Kurklinik) in einem Dorf etwas außerhalb von Bishkek. Das Denkmal war getarnt von dickem Nebel und umgeben von einer Armee von verblühenden, verwelkenden – weißen – Rosen [Fig. 18]. Wir waren uns fast sicher: Dies musste der Lenin aus dem verblichenen Foto sein. Deshalb also konnten wir ihn in der Stadt nicht finden. Er war hier, nicht im Exil, sondern zur Kur auf dem kirgisischen Land – zum Durchatmen und Entspannen, zum Zurückerlangen der sozialistischen Kräfte nach jahrelanger, unaufhörlicher, selbstloser Widmung für die proletarische Revolution. Und er war nicht allein. Einige Meter entfernt stand das Denkmal seines alten, getreuen Genossen, der Dichter Majakowski. Wie gerne stellt man sich vor, wie die beiden manchmal klammheimlich umherspazierten und miteinander plauderten, mal in Prosa, mal in Versen. Und es gebührt Majakowski, die passenden Worte zu finden, um unsere Suche zu beschließen:

 

 

Грудой дел,
суматохой явлений
день отошел,
постепенно стемнев.
Двое в комнате.
Я
и Ленин –
фотографией
на белой стене.

 

Durcheinander ob all der Ereignisse

beschäftigt mit zu viel Wichtigem

geht der Tag langsam zu Ende

und der Schatten der Nacht beginnt zu fallen.

In diesem Raum verbleiben nur noch zwei:

Ich

und Lenin –

ein Foto

auf weißer Wand.

 

[21]

Fig. 18

 

 

 

 

 

Literatur

Cummings, Sally N. (2013), “Leaving Lenin: elites, official ideology and monuments in the Kyrgyz

Republic,” Nationalities Papers, 41(4), 606 – 621.

Lenin, Nikolai (1902), What is to be done?, www.marxists.org/archive/lenin/works/download/what-itd.pdf [22].

Mayakovsky, Vladimir (1929), “Conversation with Comrade Lenin,” www.marxists.org/subject/art/literature/mayakovsky/1929/conversation-comrade-lenin.htm [23]

Rashid, Ahmed (2017), The Resurgence of Central Asia: Islam or Nationalism?, New York: New York Review Books.

Smart, Christopher (1990), “Gorbachev’s Lenin: The Myth in Service to Perestroika,” Studies in Comparative Communism, XIII(1), 5 – 22.

Trotzki, Leo (1969), Der junge Lenin, Wien: Verlag Fritz Molden.

 

Johann und Hjal(mar) arbeiten zurzeit an einem auf Englisch verfassten Sammelwerk über Lenin, Lenin150, zu Ehren seines 150. Geburtstags in diesem Jahr. Bei Interesse bitte melden unter communitybasedtheatre@posteo.de [24].

 

[1] [25]         Cummings (2013) besagt, dass die Unabhängigkeit Kirgisistan‘s und ihre Folgen im Vergleich zu den Nachbarländern ein wenig ungewöhnlich verlief: Askar Akajew, ein Laserwissenschaftler an der kirgisischen Akademie der Wissenschaften, war der erste Präsident der Zentralasiatischen Republiken, der nicht zuvor bereits Generalsekretär der kommunistischen Partei gewesen war. Außerdem wurde das Land ob seiner dynamischen Protestkultur, seines lautstarken Parlaments und seiner sehr aktiven Zivilgesellschaft in den 1990er Jahren als „Insel der Demokratie“ und „Liebling der internationalen Gemeinschaft“ bekannt (siehe auch Rashid, 2017). In den letzten Jahren allerdings wurde das Land von ethnischen Konflikten, Korruptionsskandalen, zunehmenden Angriffen gegenüber sexuellen Minderheiten und einer angeblichen Präsenz des Islamischen Staats geplagt.

[2] [26]         Die meisten der Fotos dieses Texts wurden mit einem 35mm Film gemacht und entweder einer Fed 5, einer Zenit M3, oder einer Zorki 10 geschossen.

[3] [27]         Rahat leitet Bishkek Walks und organisiert Stadtrundgänge durch Bishkek, viele mit Bezug auf die Sowjetvergangenheit der Stadt. Ähnliche Rundgänge wurden zuvor bereits von der Gruppe STAB (School of Theory and Activism), einer Künstler_innen, Forscher_innen und Aktivist_innen-Plattform  organisiert, die gemeinsam von den beiden Queer Kommunist_innen Oksana Shatalova und Georgy Mamedov geleitet wird.

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