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Was ist notwendige Arbeit? Und wer entscheidet darüber?

Italien schränkt wegen der Corona-Pandemie die Produktion ein – und wir?

Plötzlich zählt die Arbeit [1]“, schrieben Stephan Kaufmann und Eva Roth am 21. März in der Zeitung neues deutschland. In der Corona-Krise wird vielen die Bedeutung der Arbeit auf neue Weise klar. Fußball-Ultras, die aus ihren Stadien ausgesperrt sind, zeigen mit Transparenten in den Straßen ihre Anerkennung für die Beschäftigten in den Supermärkten und Krankenhäusern und fordern höhere Löhne für Pflegekräfte [2]. Gleichzeitig weisen diese darauf hin, dass wir zuhause bleiben [3] sollen, damit sie weiter arbeiten können. Um die Ausbreitung des Covid19-Virus einzudämmen und den Zusammenbruch des Gesundheitswesens abzuwenden, ist es notwendig, die Arbeit in allen nicht lebensnotwendigen Bereichen kurzfristig einzustellen. Doch diese Einsicht hat sich hierzulande noch nicht durchgesetzt; die Regierung will davon nichts wissen. Während in der Freizeit nahezu alle sozialen Kontakte unterbunden werden sollen, sollen sich die Erwerbstätigen bei der Arbeit weiterhin dem Ansteckungsrisiko aussetzen. Dabei ist diese Strategie, die Pandemie einzudämmen, in Italien bereits gescheitert.

Der italienische Ministerpräsident Conte hat nun mit seinem neuesten Gesetzesdekret vom 22. März weitreichende Einschränkungen der Produktion und Arbeit bis zum 3. April im ganzen Land angeordnet.

Die Bestimmung kurzfristig nicht notwendiger Branchen

Alle wirtschaftlichen Aktivitäten sind im Prinzip untersagt; Ausnahmen sind in einer Liste von Branchen [4] festgelegt. Die Liste der Ausnahmen ist allerdings sehr lang. Und die jetzt publizierte offizielle Liste unterscheidet sich von der vorläufigen, inoffiziellen Liste [5], die die dem italienischen Unternehmerverband Confindustria gehörende Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore nach der Ankündigung des neuen Dekrets durch Conte am 21. März publizierte. Offenbar gab es am vergangenen Wochenende noch Konsultationen und möglicherweise auch Lobbying der Wirtschaftsverbände, die dazu führten, die Liste der Ausnahmen noch zu erweitern.

Klar ist, dass die lebensnotwendige gesellschaftliche Arbeit weitaus mehr umfasst als das Auffüllen der Supermarktregale und den Dienst in den Krankenhäusern. Damit wir essen können und medizinisch versorgt werden, sind komplexe Produktionsketten notwendig. Vom Saatgut bis zum Supermarktregal ist es ein weiter Weg. Die Versorgung der Krankenhäuser mit Medikamenten, Schutzkleidung und Atemgeräten beruht auf der chemischen, pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie, Teilen der Textil- und Bekleidungsindustrie, des Maschinenbaus und weiteren Branchen. Und wer von uns möchte schon auf sauberes Trinkwasser und elektrischen Strom, auf die Abwasserentsorgung, die Müllabfuhr und die Straßenreinigung verzichten? Die von der italienischen Regierung vorgelegte Liste der Arbeiten, die nicht eingestellt werden sollen, umfasst unter anderem die Landwirtschaft und Fischerei, die Lebensmittel- und Getränkeindustrie, die gesamte chemische und pharmazeutische Produktion, die Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren, bestimmten technischen Glaswaren und keramischen Werkstoffen, medizintechnischen Geräten, die Aluminiumproduktion, die Reparatur von Kraftfahrzeugen, Maschinen und Anlagen, Energie- und Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung, Elektro-, Gas- und Wasserinstallation. Architektur- und Ingenieurbüros sollen weiterarbeiten. Auch Druckerzeugnisse soll es weiter geben; von der Papierproduktion bis zu den Zeitungsredaktionen soll die Arbeit aufrechterhalten werden. Postdienste, Rundfunk und Telekommunikation sollen aufrechterhalten werden. Auch Personal in den privaten Haushalten darf weiterbeschäftigt werden.

Dagegen soll die Arbeit unter anderem in der Forstwirtschaft, im Erzbergbau, im Hochbau, in der Tabakverarbeitung, in der Textil- und Bekleidungsindustrie (mit Ausnahme bestimmter technischer Textilien und der Herstellung von Berufsbekleidung), der Leder- und Schuhindustrie, der Eisen- und Stahlindustrie, der Herstellung von Metallerzeugnissen, in der Automobilproduktion und Teilen des Maschinenbaus eingestellt werden. Nach der vorläufigen, inoffiziellen Liste sollten auch die Produktion von Erdöl und Erdgas, der Tiefbau, die Herstellung von Verpackungsmitteln aus Holz, Elektromotoren, elektrischen Bauteilen, Landmaschinen, Maschinen für die Nahrungsmittel- und Kunststoffverarbeitung einstweilen stillgelegt werden – dies wurde jetzt revidiert.

Ist die Börse lebensnotwendig?

Nach welchen Kriterien die Auswahl der notwendigen Branchen erfolgte, ist nicht ganz klar. So soll z.B. auch im Finanzsektor ohne Einschränkungen weitergearbeitet werden. Sicherlich ist das Geld, wie Marx einmal formulierte, das „reale Gemeinwesen“, es hält die kapitalistische Gesellschaft zusammen (MEW 42, 152). Allerdings gibt es durchaus qualitative Unterschiede etwa zwischen der Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs, der Kreditvergabe und den Spekulationsgeschäften an der Börse. Auch alle Call Centers dürfen weiter arbeiten. Nachdem viele Unternehmen ihre Kundenbetreuung ausgelagert haben, stellt der Betrieb von Call Centers eine eigene Branche dar, die sicherlich auch bis zu einem gewissen Grad notwendig ist. Aber wer hätte sich nicht schon über die Anrufe von aufdringlichen Marktforschern und dubiosen Verkäufern irgendwelcher Waren geärgert?

Der Kampf um die Einstellung der nicht notwendigen Arbeit

Betrachtet man die Liste der erlaubten bzw. kurzzeitig einzustellenden Tätigkeiten, so werden mehrere Probleme deutlich. Die italienische Regierung hat von oben herab entschieden; Einschätzungen der Beschäftigten, ob ihre Arbeit notwendig ist oder nicht, spielten dabei offenbar keine Rolle. Diese dürften jedoch selbst wissen, inwiefern ihre Arbeit in der jetzigen Situation notwendig ist. In einer ganzen Reihe von Betrieben gab es schon in der vorletzten Woche Streikdrohungen und Streiks, mit denen die Beschäftigten die Einstellung der Arbeit aus Gründen des Gesundheitsschutzes forderten. Gemessen daran hat die Regierung sehr spät gehandelt. Dass sie sich nun überhaupt zu dieser Maßnahme durchgerungen hat, könnte möglicherweise nicht nur mit den weiter steigenden Covid19-Fallzahlen und der rasant wachsenden Zahl der Toten, sondern auch mit dem Druck der lohnabhängig Beschäftigten und der Gewerkschaften zu tun haben. Die Vorsitzenden der drei großen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL hatten in der vergangenen Woche in einem Brief an Ministerpräsident Conte entsprechende Maßnahmen gefordert [6]. Nun kritisieren die Gewerkschaften, dass die Liste der Ausnahmen bei den Produktionsstilllegungen auf Druck der Wirtschaftsverbände erweitert wurde. In zahlreichen Betrieben protestieren die Arbeiter. Die FIOM, die größte Metallarbeitergewerkschaft, hat bereits einen Streik in der Lombardei am 25. März [7] angekündigt.

Die Regierung hat sich bei ihren Entscheidungen auf die Klassifikation der Wirtschaftszweige des statistischen Amts der Europäischen Union bezogen, die auch den italienischen Statistiken zugrunde liegt. Die Entscheidungen der Regierung Conte über die lebensnotwendige Arbeit konnten demnach auch nur so detailliert sein wie die Klassifikation der Wirtschaftszweige. Eine Differenzierung unter den Call Centers nach ihrer konkreten Tätigkeit ist auf dieser Basis beispielsweise nicht möglich. Generell wurde hier nur über Branchen entschieden und nicht über einzelne Unternehmen, Betriebe und konkrete Tätigkeiten. Die Umsetzung der Arbeitsschutzmaßnahmen [8], die am 14. März zwischen den drei großen italienischen Gewerkschaftsbünden CGIL, CISL und UIL sowie verschiedenen Arbeitgeberverbänden vereinbart wurden und die von den Beschäftigten selbst und ihren betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretungen überwacht werden müssen, wäre z.B. ein Kriterium, um auch innerhalb von Branchen zwischen verschiedenen Unternehmen, Betrieben und Arbeitsbereichen zu differenzieren.

Hätte die Regierung Conte die Einschränkungen der Produktion und Arbeit nicht erst am vergangenen Wochenende verfügt, sondern bereits in der letzten Februarwoche, als der Anstieg der Covid19-Fallzahlen in Norditalien offensichtlich wurde, so hätten die Maßnahmen evtl. regional begrenzt werden können und die Ansteckung zahlreicher weiterer Menschen hätte verhindert werden können. Für Tausende von Menschen kommen diese Maßnahmen nun zu spät; sie sind dem Virus und der zögernden Regierung zum Opfer gefallen.

Nicht notwendige Arbeiten sollten jetzt auch in Deutschland eingestellt werden

Es spricht wenig dafür, dass die Entwicklung in Deutschland anders verlaufen wird als in Italien, was den weiteren Anstieg der Covid19-Erkrankungen und der Todesfälle angeht, falls nicht rasch auch hierzulande die nicht lebensnotwendige Arbeit eingestellt wird. Deutschland liegt heute bei der Zahl der registrierten Erkrankungen etwa dort, wo Italien vor einer Woche lag, bei der Zahl der Toten dort, wo Italien vor drei Wochen lag. Inzwischen haben zwar auch in Deutschland einzelne bedeutende Unternehmen in der Automobilindustrie ihre Produktion eingestellt, doch diese Entscheidungen erfolgten auf der Basis unternehmerischer Kalküle. Autos dürften zurzeit ohnehin kaum gekauft werden. Notwendig ist eine im gesellschaftlichen Maßstab koordinierte Einschränkung von Produktion und Arbeit, und zwar am besten indem die Beschäftigten selbst an den Entscheidungen darüber beteiligt werden. Die Einkommen der Lohnabhängigen und der kleinen Selbständigen müssen dabei gesichert werden. Gewerkschaften, Betriebsräte und die Linke sollten den Druck auf die Unternehmer und die Regierung erhöhen, damit die Probleme mit der Arbeit nicht weiter individualisiert werden. Es geht schließlich um Leben und Tod.

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