Karl Polanyis Hauptwerk „The Great Transformation“ entfaltet auch 70 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung große Erklärungskraft für die heutigen multiplen Krisen des Kapitalismus. Die Folgen der Austeritätspolitik im EURO-Raum und anderswo bspw. gleichen denen des „goldenen Bandes“, des Goldstandards, mit dem die Länder des beginnenden 20. Jahrhunderts auf Gedeih und Verderb verknüpft waren.
Aber auch ein Bezug zur Klimakrise lässt sich herstellen: Polanyi schrieb nicht nur über die „fiktiven Güter“ Arbeit und Geld, sondern auch Land, worunter er alle Natur fasste. Dass diese der Preisbildung, Angebot und Nachfrage unterworfen würden, sah Polanyi als Ausgangspunkt eines selbstzerstörerischen Prozesses. Heute wird dieser im Klimawandel in einem Maße deutlich, das er nicht vorhersehen konnte. Seine Forderung: Die Ökonomie, deren Systemlogik sich über die gesamte Gesellschaft ausgebreitet habe, müsse in diese wieder eingebettet und die „fiktiven Güter“ dem Markt entzogen werden. Der in einer „doppelten Bewegung“ gegen die Liberalisierung gerichtete Protektionismus scheitere, wenn das nicht gelingt.
Im Neoliberalismus hingegen werden die Widersprüche zwischen Marktwirtschaft und Ökologie versucht, innerhalb des Marktes aufzulösen. Das bringt das Paradox mit sich, dass auf von Marktwirtschaft verursachte Probleme mit mehr und „besserem“ Markt reagiert wird – das die externen Effekte von bspw. Braunkohleverbrennung nicht ausreichend im Preis abgebildet sind, soll mit einer Korrektur des Preises verbessert werden, hier also z.B. über Kohlenstoffmärkte. Weitere Elemente dieses „Dritten Weges“, mit dem v.a. die Sozialdemokratie in Europa beansprucht hat, zwischen Kapitalismus und Sozialismus hindurch zu manövrieren, sind Technologie-Glauben (in der Umweltpolitik: Green Growth-Narrativ) und Entpolitisierung des Staates. Diese hat u.a. Chantal Mouffe („Das Politische“) kritisiert.
Nachvollziehbar also, dass die Bezüge zu Polanyis Werk zunehmen. Unter anderem der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (wbgu.de) und die zivilgesellschaftliche Organisation Germanwatch benutzen das Schlagwort „Die Große Transformation“, um auf die enormen Herausforderungen von Umweltpolitik aufmerksam zu machen, die die Gesellschaft umgestalten muss.
Das Verständnis von Transformation der beiden Organisationen unterscheidet sich in seinen Implikationen: Germanwatch betont vor allem die Re-Transformation der Gesellschaft, also in gewissen Punkten Rückgestaltung im Sinne einer Wieder-Einbettung der Ökonomie in die Gesellschaft. Damit gibt die umwelt- und entwicklungspolitische NGO eine umfassendere Definition der Herausforderung als der Beirat. Um diesen zu begegnen, müssten auch deutlich Konsumverzichte z.B. in Bezug auf Mobilität hingenommen werden. Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft müssten außerdem die „Bremser“ überwunden werden, die sich dem Wandel entgegenstellen, was also eine klare Politisierung der Transformation fordert.
Der WBGU hingegen vertritt in seinem Hauptgutachten von 2011 einen stärker Technologie- und Marktorientierten Ansatz. Es geht weniger um die umfassende Umgestaltung der Gesellschaft, als mehr um die konkrete Umgestaltung der Wirtschaft. Klimapolitik erfordert in diesem Sinne eher die technische Reduktion der Treibhausgase als gesamtgesellschaftliche Problematisierung. Einen kollektiveren, regulativeren Ansatz befürwortet jedoch auch der WBGU: Der Staat solle demzufolge sehr wohl z.B. den Fleischverbrauch in öffentlichen Kantinen reduzieren.
Dies kann als kleinster gemeinsamer Nenner der Klimapolitik bezeichnet werden: Ein aktiver, planender und umgestaltender Staat, der kollektive Ziele (Klimawandel mildern) versucht zu verwirklichen, wenn nötig auch unter Einschränkung gewisser Konsumfreiheiten der Individuen. Denn auch das ist klar: Die Freiheit des Fleischessers oder der Vielfliegerin hierzulande beschneidet die Freiheit bspw. eines Kleinbauern am Sahelrand oder einer Fischerin auf den Fiji-Inseln, wenn deren Lebenschancen vom Klimawandel beeinträchtigt werden. Transformative Politik muss thematisieren, dass Ressourcenverbrauch und Gerechtigkeitsfrage zwei Seiten derselben Medaille sind. Dazu gehört dann auch, den Großverbrauchern wie Stromkonzernen, Fluglinien oder Autoherstellern Grenzen zu setzen, Regeln aufzuerlegen, Industrie umzugestalten. Das Dilemma, in dem sich diese Politik befindet: Das kostet oft Wähler_innenstimmen. Hier muss Politik gut begründet werden und Repräsentation der Betroffenen gewährleistet werden, die an einem anderen Ort oder in der Zukunft leben.
Dies ist eine Kurzfassung der längeren Arbeit “The Great (Re-)Transformation. What to learn from Karl Polanyi on climate change policies?” des Autoren.