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Bohème als Blaupause des Neoliberalismus [Rezension]

x478 [1]Die Kunst und das historische Bild des Künstlers (und das der Bohème), das von Originalität, Genialität und Unabhängigkeit geprägt ist, dient heute als Vorbild für die postmodernen Angestellten und Freelancer, zumindest jene der Wissenschaft und der Kreativwirtschaft, wenn nicht darüber hinaus. Diese Arbeitenden sind kreativ, belastbar, sie sind flexibel und denken und agieren eigenverantwortlich.

In der Praxis bedeutet Künstler_in-Sein heute aber für die meisten Unsicherheit und Abhängigkeit, nicht zuletzt auch Abhängigkeit von Zufall und Glück. In Österreich sind laut offizieller Statistik dreiviertel der in Frage kommenden auf das außerhalb der Kunst erzielte Einkommen angewiesen. Diese Prekarisierung wird dann durch einen Freiheitsmythos ideologisch und persönlich versüßt. Die Grazer Künstlerin und Ethnologin hat für ihre Diplomarbeit zehn Künstler_innen aus Graz interviewt, von denen sie sechs in ihrer Arbeit näher vorstellt. Darunter sind erfolgreiche und weniger erfolgreiche.

Sie tippt viele Themen an. Da ist zum einen Graz, die mit 280.000 Einwohner_innen zweitgrößte Stadt Österreichs, die unter anderem durch den seit 1968 jährlich stattfindenden „steirischen herbst [2]“ ein avantgardistisches Image hat. Dieses wurde durch die herrschaftsförmige Ausrufung von Graz als „City of Design“ 2011 entscheidend transformiert. Da sind zweitens die Interviewten, die, so die Autorin, durchgängig das unternehmerische Denken verinnerlicht hätten, wenn nicht überhöhen würden und (deswegen?) wenig Bereitschaft zur Selbstreflektion zeigen würden.

Bezugnehmend auf Foucault, Bourdieu, Isabell Lorey und Boltanski/Chiapello [3] kompiliert Fuchs nun den theoretischen Rahmen ihrer Forschung bzw. unternimmt mit dessen Hilfe die Interpretation ihrer Interviews. Ihr geht es um das Künstlersubjekt und seine Transformation und um das Verhältnis von Erfolg, Risiko und Freiheit. Bemerkenswert sei, so Fuchs, dass der Künstler auch historisch mit vielen, teilweise widersprüchlichen Eigenschaften beschrieben worden sei: Genie, schöpferisch, verrückt, eigensinnig, subversiv, auf jeden Fall „anders“ als der Mainstream.

In der projektbasierten und sehr von persönlichen Netzwerken abhängigen „Kunstszene“ herrsche heute nun ein allumfassender Aktivitätsimperativ. Schwäche und schlechte Laune würden nicht gerne gesehen. Der ursprünglich emanzipative Ansatz „Arbeit“ und „Leben“ zu vereinen, also „Kunst“ nicht als Beruf zu definieren, führe nur dazu, dass man keine Freizeit im traditionellen Sinne mehr habe. Die Einheit von Arbeit und Leben werde nun auf die Arbeit übertragen, anders sei das Pensum auch gar nicht zu schaffen und die Unsicherheit auszuhalten. Diese innere Einstellung und die „äußeren“ Unwägbarkeiten des Kunstmarktes führten zu einer Überforderung, die Depressionen und Burn-Out begünstige. Nicht zuletzt sei die Gegenüberstellung von „Avantgarde“ und „bürgerlicher Gesellschaft“, wie sie historisch immer mitschwang, heute überholt, da „sich von bürgerlichen Normen frei machen“ heute in weiten Bereichen der Gesellschaft ein „allgemeines Muss“ (S. 68) sei. Inwieweit diese These stimmt, man denke nur an Pegida oder die AfD, wäre zu überprüfen und inwiefern die Ergebnisse der Befragungen von Fuchs wirklich übertragbar sind, ist ja vielfältiger soziologischer Literatur zu entnehmen. Ihr Buch gibt jedenfalls einen guten Einblick in das Selbstverständnis von „Künstler_innen“ und bietet nebenbei eine Einführung in die Debatten um Selbstregierung und die Andockpunkte des Neoliberalismus am Phantasma vom und der Praxis der Kunstproduzierenden: Unternehmertum und „Kreativität“ sind kein Widerspruch (mehr), sondern Erfolg definiert sich und entsteht aus ihrer richtigen Kombination, egal ob im Kunstbereich oder in der Kreativwirtschaft.

Tanja Fuchs: Kunst in Zeiten der Kreativwirtschaft. Zwischen Geniemythos und Unternehmertum, Jonas Verlag, Marburg 2015, 96 Seiten, 18 EUR

 

Einstündiges Interview mit Tanja Fuchs: cba.fro.at/298613 [4]

Leseempfehlungen zum Thema

Kulturen des Kreativen – Historische Bohème und zeitgenössisches Prekariat [5], Ausgabe 18 von trivium. Deutsch-französische [open access] Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften

Klaus Dörre [6] & Tatjana Fuchs [7]: Prekarität und soziale (Des-)Integration [8], in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung [9] 63, September 2005

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