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Zwischen Organisation und Bewegung – Das Weltsozialforum [Rezension]

9783837629675_ [1]Proteste gegen die Welthandelsorganisation in Seattle 1999 und das im Jahr 2001 zum ersten Mal im brasilianischen Porto Alegre veranstaltete Weltsozialforum (WSF) gelten als Entstehungsmomente einer sich konstituierenden globalen Zivilgesellschaft. Das Weltsozialforum als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos findet seitdem regelmäßig statt. Die Anzahl der TeilnehmerInnen mit mehreren zehntausend sowie das internationale Echo waren in den ersten Jahren riesig. Beim zwölften WSF, das vergangenen März in Tunis stattfand, hatte das Interesse zwar deutlich nachgelassen. Dennoch galt es immer noch als der bedeutendste Treffpunkt für internationale globalisierungskritische Bewegungen und ihre AkteurInnen.

Was macht den Erfolg dieser losen Folge von unterschiedlichen Veranstaltungen aus, die im Verlauf der Jahre in sieben verschiedenen Städten organisiert wurden? Wie konnte diese Kontinuität gewährleistet werden, ohne dass es feste Organisationsstrukturen gab? – Diese Fragen stellte sich der Autor Christian Schröder in seiner umfangreichen ethnografischen Forschungsarbeit, in der er sowohl die Geschichte der elf WSFs bis ins Jahr 2013 beschreibt als auch versucht, die Organisationsstrukturen auszuleuchten.
Im Mittelpunkt steht für Schröder die Frage, wie es dem WSF – anders als vielen anderen Bewegungen – bisher gelungen sei, so lange fortzubestehen, ohne seinen Bewegungscharakter zu verlieren. Aufgrund seiner umfangreichen Analysen entwickelt der Autor das Prinzip der »Transpoiesis«, demzufolge Bewegungen wie das Weltsozialforum »dann überdauern, wenn sie zwischen Zerfall und Institutionalisierung oszillieren« würden. Dieses Prinzip lasse sich beim WSF in verschiedenen Bereichen aufzeigen: Beispielsweise in der Frage der Identität, die mit der allgemeinen »Kritik an der Ideologie des Neoliberalismus« relativ offen und zeitlos formuliert sei. Außerdem habe die bewegte Geschichte der verschiedenen internationalen und auch regionalen Sozialforen gezeigt, dass die jeweiligen Organisations-Gruppen eine genügend große Eigendynamik entfalteten und damit dem »Internationalen Rat« in Brasilien als Zentrale wenig Einfluss blieb.

Leider nicht sonderlich ausführlich diskutiert der Autor die zentrale Charta, die nach dem ersten WSF niedergeschrieben wurde und die wichtigsten Prinzipien der WSF-Bewegung festhält. Dies gilt vor allem für das »Prinzip des offenen Raums, das dafür sorgt, dass ein Sozialforum offen und anschlussfähig ist für möglichst alle zivilgesellschaftlichen Gruppen«. Zudem werde der offene Raum so verstanden, dass unter anderem PolitikerInnen nicht teilnehmen dürfen. Da von diesem Prinzip in der Geschichte des WSF bereits einige Male abgewichen wurde, hätten die entstandenen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der WSF-Bewegung durchaus ausführlicher beleuchtet werden können.
Der Autor hat bei seiner Recherche eine breite Palette an verschiedenen Quellen ausgewertet und konnte
auch interne Protokolle des Internationalen Rats verwenden. Außerdem hatte er mehrere Gespräche
mit WSF-AkteurInnen geführt. Das vorliegende Buch bietet eine vielschichtige Materialsammlung zu einer
der faszinierendsten Bewegungen der GlobalisierungsgegnerInnen. Schade ist, dass es der Autor weitgehend
versäumt hat, den Bezug zur Entwicklung von regionalen Sozialforen in Deutschland herzustellen, die
bundesweit für kurze Zeit von Bedeutung waren und in einigen Städten eine kontinuierliche Entwicklung
erlebten und sich weiter verändern.

Christian Schröder: Das Weltsozialforum. Eine Institution der Globalisierungskritik zwischen Organisation und Bewegung. Transcript, Bielefeld 2015, 298 Seiten, 34,99 Euro

Diese Rezension von Peter Streiff [2] (Stuttgart) erschien zuerst in CONTRASTE, Monatszeitung für Selbstorganisation [3], Nr. 373 (Oktober 2015). CONTRASTE berichtet regelmäßig aus dem Land der gelebten Utopien: über Arbeiten ohne ChefIn für ein selbstbestimmtes Leben, alternatives Wirtschaften gegen Ausbeutung von Menschen und Natur, über Neugründungen von Projekten, Kultur von „unten“ und viele andere selbstorganisierte und selbstverwaltete Zusammenhänge.

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1 Kommentar Empfänger "Zwischen Organisation und Bewegung – Das Weltsozialforum [Rezension]"

#1 Kommentar von luxemburg_mag am Oktober 3, 2015 00000010 6:12 am 144385273306Sa, 03 Okt 2015 06:12:13 +0000

RT @ifg_rls: Das Weltsozialforum, Eine Institution der Globalisierungskritik zwischen Organisation [Rezen…: {content} [12]