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[Eine Rezension von Torsten Bewernitz]

Der kleine Wissenschaftsverlag Offizin aus Hannover hat Aufmerksamkeit allein schon deswegen verdient, weil er sich mit der Gesamtausgabe der Schriften des dissidenten Marxisten Karl Korsch hervorgetan hat. Beachtenswert sind insbesondere auch die Publikationen des Politikwissenschaftlers Gregor Kritidis. Ich möchte diese Rezension nutzen, um auch auf dessen – leider teure, aber auch entsprechend umfangreiche – Dissertation „Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer“ aufmerksam zu machen, die 2010 ganz zu Recht von der Rosa Luxemburg Stiftung mit deren Wissenschaftspreis ausgezeichnet wurde.

Kritidis’ Dissertation ist für historisch Interessierteauch deshalb mehr als nur einen Blick wert, weil sie zeigt, wo Strömungen wie Anarchismus und Syndikalismus in den schwarz-grauen 1950er und frühen 1960er Jahren überwinterte: Weniger in der weitgehend kulturell und kaum noch klassenkämpferisch agierenden FAUD-Nachfolgeorganisation „Freunde des freiheitlichen Sozialismus“ (FFS), sondern wesentlich agiler in kritischen Reihen der SPD. Namen wie Erich Gerlach und Peter von Oertzen sind mit dieser fast verschollenen undogmatisch-syndikalistischen Tradition verbunden.

Vor allem ist die von 1954 bis 1966 erschienene Zeitschrift „Sozialistische Politik“ in diesem Zusammenhang zu nennen. In der „SOPO“ publizierten TrotzkistInnen, SyndikalistInnen und LinkssozialistInnen, die zum Großteil die gleiche Parteimitgliedschaft hatten.

Gregor Kritidis publiziert regelmäßig in dem Online-Projekt „sopos.org“ (Sozialistische Positionen), die die virtuelle Nachfolge der SOPO darstellt. Auch zahlreiche der in dem Band „Griechenland – auf dem Weg in den Maßnahmestaat“ veröffentlichten Artikel entstammen dieser Homepage, wurden aber für das Buch aktualisiert und überarbeitet. Und auch, wenn sich sparsame LeserInnen deswegen den Kauf des Buches sparen könnten, ergibt sich ein deutlicheres und dichtes Gesamtbild, wenn man diese und weitere Aufsätze im Kontext liest.

Wir alle wissen zur Genüge, mit welcher Intensität ein neuer, feudaler Imperialismus aus Nordeuropa die südeuropäischen Länder und vor allem ihre Bevölkerungen drangsaliert. Kritidis’ Sammelband lässt die Ereignisse seit 2008 aber noch einmal Revue passieren mit zwei Schwerpunkten, die von wesentlichem Interesse sind: Zum einen ist dies die definitive Suspendierung jeglicher Demokratie in der Wiege eben dieses politischen Konzepts, zum anderen die Neuerfindung der Demokratie in einem wesentlich direkteren Verständnis auf der Straße, in den Generalstreiks der vergangenen Jahre und in der beginnenden Bewegung der selbstverwalteten Betriebe.

Gregor Kritidis’ Band ist chronologisch aufgebaut: Die ersten Beiträge informieren über die Proteste und Platzbesetzungen nach der Ermordung Alexandros Grigoropoulos’ durch einen griechischen Polizisten 2008. Die Beschreibung der Entwicklung dieser Proteste führt ihn zu einer Darstellung des Anarchismus in Griechenland. Dessen Stärke, so Kritidis, liegt vor allem darin, eben keine subkulturelle Bewegung zu sein sondern gerade in Zeiten der Krise aus „ganz normale[n] Jugendlichen aus der Arbeiter- und Mittelschicht“ (27) zu bestehen. Dabei benutzt der Autor aber auch einen recht weiten Begriff des Anarchismus: Es geht in seinen Beschreibungen oftmals nicht um ‚bekennende AnarchistInnen’, sondern um Selbstverwaltungsprojekte und um unabhängige – in weiterem Sinne sicherlich syndikalistische – Gewerkschaften prekär Beschäftigter sowie um die kreativen, oft basisdemokratischen Aktionsformen. Angesichts der vollkommen erodierten parlamentarischen Demokratie – die aktuelle gesamteuropäische Panikmache vor einem Wahlsieg der SYRIZA spricht hier Bände – sind diese Widerstandsformen gerade für einen politischen, wirtschaftsunabhängigen Pluralismus tatsächlich die letzte Hoffnung – das sehen aber, wie aus anderen Berichten über die griechischen Bewegung zu erfahren ist, durchaus nicht alle diese Initiativen so. Gerade die auf Hilfe ausgerichteten Selbstorganisationsprojekte wie Krankenhäuser und Suppenküchen verstehen sich eher als Notbehelf denn als langfristiges Projekt und hoffen auf die Rückkehr eines sozialeren Staates, der diese Aufgaben übernimmt.1 Die Form dieser Projekte mag anarchistisch sein, die Zielsetzungen sind es oft nicht. Das sollte auch keine Voraussetzung für Solidarität sein – es ist der griechischen Bevölkerung schon selber zu überlassen, wie sie mit der Krise umgehen will. Würde eine nordwest-europäische Solidaritätsbewegung der griechischen Bewegung darüber Vorschriften machen wollen, wäre sie im Kern nicht besser als die Troika. Das bedeutet auch: Wenn die griechische Bevölkerung die parlamentarische Wahl von SYRIZA als Alternative wählt, sollten diesem Ansinnen von anarchistischer Seite auch in Deutschland keine Steine in den Weg gelegt werden. Eine mediale Hetze gegen SYRIZA so wie eindeutige Drohungen gegen die griechische Bevölkerung dominieren momentan durchaus Presse und Politik.

Nichtsdestotrotz ist es natürlich richtig, dass der Anarchismus in Griechenland eine stärkere Rolle spielt als wohl in irgendeinem anderen europäischen Land. Bis zum Generalstreik am 05. Mai 2010, während dessen bei einem Brand drei Bankangestellte ums Leben kamen (68), wurde in der anarchistischen Community ein militanter Insurrektionalismus kaum in Frage gestellt.2 Trotzdem kann die Breite der anarchistischen Bewegung keineswegs auf diesen Charakter beschränkt werden und wird auch nicht alleine in der Lage sein, der europäischen Austeritätspolitik etwas entgegenzusetzen: „Solange bürgerliche Regierungen über die formale demokratische Legitimation verfügen und darüber hinaus die Rückendeckung der EU genießen, kann nur eine [untereinander, Anm. T. B.] kooperierende Linke die politischen und ökonomischen Machtpositionen der Eliten erschüttern“ (56).

„Das Experimentieren mit neuen Aktions- und Organisationsformen ist dabei die Kehrseite des Untergangs einer alten Welt“ (35) erklärt Kritidis diese aktuellen anarchistischen Tendenzen.

Den Begriff des (autoritären) Maßnahmestaats im Titel entlehnt Gregor Kritidis der Analyse des nationalsozialistischen Deutschlands von Ernst Fraenkel. Kern dieser Erklärung ist das Weiterbestehen eines rechtlichen Rahmens bei gleichzeitiger „Zerstörung rechtlicher Sicherungen in einzelnen Bereichen“ (136). Der Titel des Buches stellt dies noch als Frage. Kritidis’ Analyse lässt m.E. nur einen Schluss zu: Ja, Griechenland ist ein autoritärer Maßnahmestaat – und weiterhin längst kein souveräner Staat mehr. Die Art, wie in Griechenland politische und ökonomische Entscheidungen getroffen werden, kennt die Politikwissenschaft ansonsten nur von im Krieg besiegten und unterworfenen Staaten. Der Soziologe Zygmunt Baumann hat einmal den Satz geprägt „Ökonomie ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“, die kaum irgendwo mehr bestätigt als hier. „Ein anderer Krieg ist möglich“ lautet der zynische, deswegen aber nicht weniger wahre Kommentar einiger griechischer anarchistischer Gruppen dazu. Aus griechischer Sicht ist das, was aktuell geschieht, eine direkte Fortsetzung der Besetzung des Landes durch die Nationalsozialisten. Die für sogar die meisten Linken absurd erscheinende Gleichsetzung Angela Merkels mit dem Nationalsozialismus ist eine im griechischen Erinnerungsdiskurs völlig plausible Konsequenz. Was Griechenland heute sowohl an direkter Enteignung wie auch an Suspendierung von Demokratie erlebt, wurde binnenimperialistisch 1989 mit der ehemaligen DDR erprobt: „Die Währungsunion war und ist ein Instrument, mit dem die wirtschaftlich starken Staaten Mitteleuropas ihre Exporte in die europäische Peripherie massiv begünstigt und die dortigen Industrien zerstört haben“ (107f.). Und es ist nicht so weit hergeholt, wie so mancher vielleicht meint, dass ein effektiver Widerstand in Griechenland auch eine kriegerische Intervention von Seiten der Troika hervorgerufen hätte bzw. dies auch immer noch passieren kann.

Dennoch kann man Merkel und Co nicht die Alleinschuld an der aktuellen griechischen Situation zuschreiben: Die in den bürgerlichen Medien immer wieder kolportierte Korruptionsmentalität gab und gibt es tatsächlich. Es ist allerdings die – von europäischen und insbesondere deutschen Konzernen, vor allem den Rüstungskonzernen – geförderte Korruption und Nehmer-Mentalität der herrschenden Klassen, die die unteren Klassen nun ausbaden sollen: „Das Reformprogramm der Troika richtet sich vor allem gegen die breite Masse der Bevölkerung, die freilich schon in der Vergangenheit die Leidtragende von Korruption und Vetternwirtschaft gewesen ist“ (132). Auch dies unterscheidet sich noch kaum von der Austeritätspolitik in vielen anderen Staaten, auch in den viel höher verschuldeten USA baden die Arbeitenden und Arbeitslosen die Krise aus. Die griechischen Eliten aber konnten diese Maßnahmen gegen den Willen der griechischen Bevölkerung nicht ohne Hilfe von außen durchsetzen sondern benötigten dafür die Autorität der Troika. Die griechische Oligarchie ist also nicht Opfer einer Machtergreifung durch EU, IWF und EZB geworden, sondern hat diese Macht übergeben – oder aber, um noch einmal deutlich zu machen, dass es sich hier durchaus um einen Krieg handelt: Sie hat bedingungslos kapituliert. Damit ist in Griechenland „die parlamentarische Demokratie […] nur noch eine Attrappe, hinter der sich ein postdemokratischer autoritärer Maßnahmestaat formiert hat“ (136). Das vermeintliche „Geburtsland“ der Demokratie markiert den Anfang vom Ende der Demokratie in ihrer jetzigen Form – vielleicht aber auch, aus der Not geboren, den Beginn einer neuen, besseren Demokratie.

Torsten Bewernitz

Kritidis, Gregor: Griechenland – auf dem Weg in den Maßnahmestaat? Autoritäre Krisenpolitik und demokratischer Widerstand, Flugschriften Kritischer Wissenschaft Nr. 13, Offizin-Verlag, Hannover 2014, ISBN: 9783945447024, 148 Seiten, 15 Euro.

Eine ähnliche Version dieser Rezension erschien bereits in Graswurzelrevolution, März 2015.

1 Vgl. Vogiatzoglou, Markos 2014: Die griechische Gewerkschaftsbewegung: Protest- und Sozialbewegungen im Kontext der Austeritätspolitik, S.367, in: WSI-Mitteilungen 5/2014. Schwerpunktheft Streik und sozialer Protest. S.361 – 368.

2 Siehe zur Geschichte und zum Charakter der anarchistischen Bewegung in Griechenland: Schwar, A.G., Tasos Sagris und Void Nezwork (Hrsg.) 2010: Wir sind ein Bild der Zukunft – auf der Straße schreiben wir Geschichte. Texte aus der griechischen Revolte. Laika-Verlag, Hamburg.

3 Responses to “Griechenland: Das exemplarische Scheitern der Demokratie”

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