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Über die Soziale Agenda der EU hinausgehen …

alter [1]Die Tagung in Helsinki [2] stellte sich die ambitionierte Aufgabe, ein neuartiges institutionelles Design „über die soziale Dimension der EU hinaus“ vorzuschlagen. Dabei gingen die OrganisatorInnen davon aus, dass die Diskussionen um die „soziale Dimension“ vor allem als von der Kommission „induziert“ zu betrachten und Veränderungen nur mit grundlegenden Vertragsänderungen zu erreichen seien. Erfasst diese Diagnose aber die volle Wirklichkeit der Europäischen Integration? Welches „institutionelle Design“ ist durch ein neues abzulösen? Wo liegen die Schwachpunkte und wo liegen die Stärken der vorhandenen Institutionen? Welchen Stellenwert hat die Sozialstaatlichkeit als Bezugspunkt eines neuen, alternativen institutionellen Designs in der entstehenden EU-Staatlichkeit? Die Fragestellung nach den Alternativen über die soziales Dimension der EU hinaus zieht also sofort eine Vielzahl weitergehender und Detailfragen nach sich. Immer fühlbar, wenn auch kaum offen ausgesprochen ging es natürlich auch um die Frage, warum man eigentlich an Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen und wen man wählen sollte. So nahmen auch mehrere Kandidaten der Linken, der Piraten und der Sozialdemokraten teil.
Betrachtet man die Kräfteverhältnisse realistisch, so wird es nicht um eine Ablösung, sondern bestenfalls um eine Reform des institutionellen Designs gehen können. Der Beginn der Veranstaltung war in dieser Hinsicht symptomatisch: Paavo Arthinmäki, finnischer (noch-)Kulturminister begrüßte die TeilnehmerInnen mit der Mitteilung, dass wenige Tage zuvor die finnische Linkspartei beschlossen hatte, wegen der anstehenden Haushaltsentscheidungen aus der Regierung auszuscheiden. Die Partei hatte in den vergangenen drei Jahre viele unpopuläre Entscheidungen im Sinne der neoliberalen Wende mitgetragen, um wenigstens an einigen Punkten Grenzen zu setzen. Letztlich wurde sie aber von ihren Regierungs“partnern“ blockiert. Diese verwiesen immer wieder auf die Forderungen der EU. Diesen Hintergrund muss man im Blick haben, wenn man den Verlauf der Konferenz reflektiert: es ging um Alternativen in der EU, um Forderungen zu Zukunft der EU. Arthinmäki selbst benannte solche, wie die nach Abschaffung der Steuerkonkurrenz, Kontrolle des Bankensektors und der EZB oder nach der Schaffung einer großen öffentlichen Bank. Diese Auseinandersetzungen werden in allen EU-Ländern geführt – der Austausch darüber ist daher sehr wichtig.
Teppo Eskelinen, Generalsekretär des Linken Forums (der Schwesterorganisation der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Netzwerk transform!) skizzierte anschließend die Konfliktlage. Er stellte die Frage, wie die Ziele sozialer Stabilität, Nachhaltigkeit und Solidarität gemeinsam zu realisieren seien. Welche Institutionen, welche Verfahren sind nötig? Was bedeutet die Schaffung globaler Instrumente der Kontrolle wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklung? Wie kann man dabei die Grenzen der derzeitigen EU überschreiten?
Der Rahmen der Veranstaltung war somit weit gespannt.
In den anschließenden Plenumsveranstaltungen [3] diskutierten WissenschaftlerInnen und BewegungsaktivistInnen, wie Brigitte Young, Trevor Evans John Weeks, Li Andersson (Linke Jugend Finnland) und Asbjörn Wahl Analysen und Alternativen aus ihren jeweiligen spezifischen Sichten.
Es zeigten sich zwei Pole: Auf der einen Seite die Forderung, die gegebenen Strukturen der EU zu nutzen und zu erweitern, auf der anderen Seite die Meinung, dass nur noch radikale Reformen sinnvoll seien. Bedauerlicherweise blieben diese beiden Sichten recht unvermittelt.

Analysen

tag1 [4]Trevor Evans leitete die Debatte mit einer Analyse des Hintergrundes des möglichen politischen Handelns ein. Er verwies vor allem auf den Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen Erholung und der sozialen Krise in fast allen Ländern und die danmit im Zusammenhang stehende Rolle der großen Banken beim Transfer der Krise von den USA in die EU. Die Haushaltsdefizite erweisen sich so als Folge, nicht Ursache der Krise. Der Redner betonte die daraus resultierende Instabilität, die mit einer Tendenz zur Entdemokratisierung unter dem Vorwand der Stabilisierung verbunden sei. Bezüglich der Alternativen stellte er Aspekte, wie die Sicherung des makroökonomischen Gleichgewichts, eine offensive Fiskalpolitik, die Schaffung guter Arbeit, demokratische Kontrolle in der Wirtschaft, gemeinsame Eurobonds zur Finanzierung der Staatsschulden, regionale und Industriepolitik unter Beteiligung der EIB, Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen, Trennung von Geschäfts- und Investmentbanking, Förderung öffentlicher und genossenschaftlicher Banken sowie die Begrenzung und strenge Regulierung der Aktivitäten von Investmentbanken, Hedge Fonds und Private Equity in den Mittelpunkt. In einer späteren Intervention warnte Evans nachdrückliuch vor Oligarchisierungstendenzen. Evans steckte damit den Rahmen ab, in dem sich die meisten der präsentierten Analysen bewegten.
Brigitte Young untersuchte, was wir für ein progressives Europa brauchen. Dazu kritisierte sie die Mythen über Schulden und Wachstum. Sie betonte die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit des debt reliefe und verwies darauf, dass die BRD nach dem 2. Weltkrieg selber vom Schuldenerlass seitens 20 Staaten (1953) profitiert hatte.
Heikki Patomäki (Professor an der Universität Helsinki) hob vor allem die Zielkonflikte zwischen der sozialen Dimension und der Konkurrenzorientierung in der EU hervor. Als Spielräume für Alternativen hob er die Mechanismen der Offenen Koordinierungsmethode, bei der Fixierung von sozialen Standards, dem soft law mechanism sowie den Forderungen nach einem Mindestlohn und einer europäische Arbeitslosenversicherung hervor. Als Problem benannte er, dass die Forderungen der Europäischen Linkspartei oft zu wenig spezifiziert seien. Es werde oft auch nicht deutlich, wer die Forderungen eigentlich durchsetzen sollte und wie und wie sie mit globalen Entwicklungen verbunden werden können.
Fernando Iglesias aus Argentinien machte sich dafür stark, das Manifest von Ventotene [5], von A.Spinelli im Jahr 1941 als Vision eines antifaschistischen Europa entworfen, wieder stärker als Bezugspunkt linker Strategie zu nutzen. Mikael Böök forderte in diesem Zusammenhang in der Diskussion, Spinelli „neu zu schreiben“ [6] und die Idee des Föderalismus neu zu diskutieren. Iglesias betonte, dass heute keine nationalen, nur noch regionale und globale Lösungen für die anstehenden Probleme möglich seien. Die internationalen Strukturen/Institutionen müssen demokratisiert und globalisiert werden.
Dem widersprach John Weeks. Er betrachtet die EU als alternativlose „Fortsetzung des Kalten Krieges“. Die EU sei nicht in der Lage gewesen, auch nur einen der zentralen Konflikte der Neuzeit zu lösen: Seit 250 Jahren bestehe in Europa der Konflikt zwischen Autoritarismus und Demokratie – dieser sei durch die EU nicht gelöst worden. Auch das Ziel, die Dominanz einer Macht zu verhindern sei nicht erreicht worden. Gleiches gelte für das Ziel der Handelsförderung. Er sieht die Lösung darin, sich auf drei Forderungen zu konzentrieren:
– die EZB sollte Banken kontrollieren sonst nichts
– Maastricht Kriterien abschaffen – keine Fiskalunion
– zeitweise Importkontrollen und Exportförderung in Ländern mit Problemen.
Thomas Wallgren (Professor für Philosophie an der Uni Helsinki und Kandidat für die EP-Wahlen für die Sozialdemokraten) schlug den Bogen von der Situation in der EU zur Kritik des industriellen Wachstums und der Lebensweise. Gerade die Lebensweise vermittle den Eurozentrismus. Er problematisierte den Zusammenhang von Eurozentrismus als Glaube an die Potenzen der Administration und der Technologie mit der Lebensweise. Vor diesem Hintergrund sei der globale Kapitalismus durch global governance nicht zu kontrollieren. Vielmehr ginge es darum, Bündnisse zu erweitern und Solidarität zu entwickeln. Wallgren hob die Rolle des Lokalen hervor und verwies auf Erfahrungen von Bewegungen in der Tradition Gandhis. Man müsse sich aus der Abhängigkeit von den Unternehmensstrategien befreien. In einer späteren Diskussionsrunde verwies er auf das Potenzial von Initiativen im Bereich des urban gardening und um freien Zugang zu Saatgut, bei der Entwicklung von alternativen Netzwerken zur Behandlung psychischer Erkrankungen, lokaler Währungen u.ä.

Handlungsoptionen

Eine Reihe von Beiträgen versuchte, die Bewegung in den Institutionen und die Frage nach den Akteuren der Veränderung in den Mittelpunkt zu stellen. Annika Lapintie (MdEP) widmete sich der Frage nach den Entscheidungsprozessen in der EU [7]. Sie referierte die Bedeutung der Sozialen Dimension in der EU in ihrer Veränderung. Soziale Dimension wurde letztlich immer auf die Bereitstellung von Arbeitskraft reduziert. Nur in Krisensituationen wurde sie immer wieder ideologisch erweitert präsentiert, um Zustimmung zu erreichen und die entstehenden Legitimationskrise zu überwinden. Wichtig ist die Erweiterung der Kontrolle durch EP und nationale Parlamente. Die Rolle der nationalen Parlamente ist bereits gewachsen, wobei das finnische Parlament sich mit die weitesten Rechte gegenüber der Regierung sichern konnte. Trotzdem bleibt es bei einer Kultur der Geheimhaltung im Entscheidungsprozess. Transparenz sei daher eine der zentralen Forderungen.
Timo Harakka, ein in Finnland sehr bekannter Journalist, schlug vor, die Mechanismen der Beteiligung der Sozialpartner auszuweiten, der Mechanismen der erweiterten Regulierung zur Ausweitung sozialer Rechte und zur Installierung eines wirkungsvollen Systems der economic governance zu nutzen. Das Handeln müsse an das Ziel einer stabilen, sozialen EU gebunden werden. Dies erfordere eine Veränderung der Rolle des EZB mit dem Ziel der “Demonetarisierung” der EU.
Asbjörn Wahl (Norwegen) betonte die Frage nach den Machtverhältnissen. Ziel der Austerität sei nicht Wachstum, sondern die Zerstörung der Reste des Sozialstaates. Wir stünden am Ende der Wohlfahrtsstaat-Ära. Es ginge nicht um die Verteidigung des Wohlfahrtsstaates, sondern die Verteidigung seiner Errungenschaften.
Davon ausgehend seien alle anderen Fragen zu beantworten. Die Krise werde in Europa weitgehend unterschätzt – es sei nicht nur eine Krise einzelner Bereiche, sondern eine Krise des Kapitalismus. Bei den Auseinandersetzungen um die Lösung dieser Krise seien vor allem die institutionellen Veränderungen und die Veränderung in den Entscheidungsprozessen in Rechnung zu stellen. Es entstehe das Gefühl der Kolonialisierung durch die EU. Er stellte die Frage, was vor diesem Hintergrund eigentlich möglich sei und wo Prioritäten gesetzt werden sollten. Wahl verwies darauf, dass sich linke Parteien in der Regierungsbeteiligung immer wieder selbst zerstörten. Die Kritik der EU sei nicht zuletzt vor diesem Hintergrund in das Narrativ eines vereinigten sozialistischen Europa einzubetten. Das schließe u.A. den Aufbau von alternativen sozialen Beziehungen und politischen Institutionen ein.
Li Andersson von der Jugendorganisation der Linkspartei widmete sich der Frage der Mobilisierung und der Akteure aus der Perspektive einer Aktivistin. Sie machte die „mentale Dimension“ der Austeritätspolitik zu ihrem Ausgangspunkt. Angst, Gehirnwäsche, Diskreditierung des öffentlichen Sektors, Schuldenfrage, Privatisierung von Alterssicherung, Verstellung von Alternativen, Verlust der Legitimität von Institutionen einschl. der Parteien seine Probleme, denen man sich zu stellen habe. Andersson stellte die Frage nach einer “populären”, mobilisierenden Agenda des Wandels in der EU. Dabei verwies sie auf die Erfahrungen in Spanien, wo das Große mit dem Kleinen verbunden wurde, also über Ursachen von Widersprüchen und Krisen gesprochen wurde, etwa in der Wohnungsfrage. Andersson formulierte drei Forderungen. Zentral sei die Schuldenfrage – private wie auch öffentliche Schulden. Von daher sind viele Fragen aufzurollen: Es ginge um die Rolle und den Wert des Öffentlichen, die Rolle der Banken, der öffentlichen Kontrolle des Bankensektors und die Rolle von Krediten. Demokratisierung sei die zweite integrierende Handlungsstrategie. Drittens ginge es um weitgehende Sozialreformen, wie Löhne, Wohnen usw.
Die folgenden Diskussionen berührten viele der angesprochenen Fragen und schärften diese. Es ging um die transformativen Potenziale und Grenzen der Gewerkschaftsbewegung, darum, was tatsächlich konkret Demokratisierung heißen könnte oder die Rolle der Forderung nach einem Mindestlohn. Deutlich wurde, dass linke Bewegungen und Parteien viel mehr in Prozessen denken müssen. Referenden sollten als Ende eine Prozesses verstanden werden, in dem Menschen aktiviert werden, politisch zu Handeln. Wichtig sei, verschiedene Herangehensweisen und Projekte der Demokratisierung zu kombinieren. Die Erfahrungen des WSF als Raum der Vorbereitung von Aktionen, nicht der Entscheidung seien noch einmal zu analysieren.

Wie weiter?

Die Konferenz machte deutlich, wie schwer es linken Bewegungen fällt, das Lokale und das Globale in Beziehung zu setzen. Trotz ähnlicher Probleme herrscht bei der Suche nach gemeinsamen Handlungsansätzen Ratlosigkeit. Das verweist auf ein Paradox: Die Arbeiterbewegung entsteht als globale Bewegung im 19. Jahrhundert – und sie verliert diese Eigenschaft im Laufe der Zeit. Das Kapital globalisiert sich und ist heute weniger national als je zuvor. Dem können linke Bewegungen derzeit nichts entgegen setzen. Dem steht wiederum Vielfalt und Kreativität lokaler Alternativen gegenüber, die eigentlich gemeinsamem Handeln eine stabile Basis geben könnten. Die Tagung machte die organisationspolitische Aufgabe deutlich, den gemeinsamen Problemen gemeinsame Handlungsstrategien zur Seite zu stellen. Dies setzt aber wiederum voraus, dass man sich darüber einigt, sich in den Widersprüchen zu bewegen – nicht anzunehmen, man würde über ihnen schweben.

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