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Das neue Wahlrecht verstehen

totaldemo [1]von Halina Wawzyniak [2], MdB

Der Bundestag hat ein neues Wahlrecht beschlossen. Es zu verstehen ist außerordentlich schwer, und ein Blick in das Gesetz hilft hier wenig. Das liegt weniger an den Formulierungskünsten, sondern eher an dem gewählten Verfahren.

Der Bundestag hatte in dieser Legislaturperiode schon einmal ein Wahlrecht verabschiedet, das Bundesverfassungsgericht hat es im Juli 2012 für verfassungswidrig erklärt.  Das Parlament musste also eine neue Lösung finden.  Worum geht es?

In Deutschland geben die Wähler/innen zwei Stimmen ab. Mit der ersten Stimme wählen sie eine/einen Direktkandidatin/Direktkandidaten. Die Person, die im Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereinigt, zieht direkt in das Parlament ein. Mit der zweiten Stimme wählen die Wähler/innen eine Partei. Die Zweitstimme ist die entscheidende Stimme für die Zusammensetzung des Bundestages. Das, was die Parteien Wahlabend an Prozenten erhalten, ist das Ergebnis der abgegebenen Zweitstimmen und soll sich in der Zusammensetzung des Bundestages widerspiegeln.

Doch was passiert, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach Zweistimmen an Sitzen zustehen? In diesem Fall entstehen sogenannte Überhangmandate. Bislang wurden diese nicht ausgeglichen, d.h. sie verblieben der Partei und führten so zu einer Verzerrung der Zusammensetzung des Bundestages. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Juli 2012 entschieden, dass maximal 15 Überhangmandate zulässig sind. Es gab aber auch vor, dass ein anderer Effekt vermieden werden muss: der Effekt des negativen Stimmgewichts. Dies meint kurz gefasst, dass ein Zuwachs an Stimmen für eine Partei zu weniger Sitzen führt und umgekehrt ein Verlust an Stimmen zu mehr Sitzen.

Union, FDP, Grüne und SPD haben nun ein Wahlrecht vorgelegt, das den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechen soll. Dazu werden in einem ersten Schritt – im Rahmen einer sogenannten Phantomberechnung – den Bundesländer entsprechend ihrer Bevölkerungszahl die gesetzlich vorgeschriebenen 598 Bundestagssitze zugeteilt. Stichtag soll nach mündlicher Auskunft im Innenausschuss der 31.12.2012 sein. Innerhalb der Bundesländer werden die auf sie entfallenden Mandate entsprechend dem Zweitstimmenanteil an die einzelnen Parteien verteilt. Soweit nun in einem oder mehreren Bundesländern eine Partei mehr Direktmandate erzielt als ihr Sitze nach Zweitstimmen zustehen, kommt es zu einer Vergrößerung des Bundestages, also der insgesamt zu vergebenden Bundestagsmandate. Die zu vergebenden Bundestagsmandate werden solange erhöht, bis das Zweitstimmenverhältnis der Parteien auf Bundesebene wiederhergestellt ist.  Die so erhöhten Bundestagsmandate (also 598 + x) werden dann – in  einem zweiten Schritt – wieder an die Parteien gegeben. Die danach einer Partei zustehenden Mandate werden entsprechend des Zweitstimmenanteils in den jeweiligen Bundesländern auf die Landeslisten der Parteien verteilt.

Dieses Wahlrecht – wäre es angewandt worden – hätte seit 1994 immer zu einer Vergrößerung des Bundestages geführt. Und das, obwohl um die Jahrtausendwende eine politische Entscheidung gefällt wurde, die Größe des Bundestages zu verringern. Eine solche Vergrößerung des Parlaments wäre hinzunehmen, gäbe es keine verfassungsgemäße Alternative. Ein Wahlrecht muss verfassungsgemäß sein, und wenn es nur eine Option dafür gibt, und diese zur Vergrößerung des Parlaments führt, dann wäre dies um der Demokratie willen hinzunehmen. Es gibt aber eine Alternative zum verabschiedeten Wahlrecht, die verfassungsgemäß ist, leicht verständlich und im Regelfall nicht zu einer Vergrößerung des Parlaments führt. Diese Alternative kommt von der LINKEN.

Nach dem Modell der LINKEN werden auf der Bundesebene die Direktmandate, die eine Partei errungen hat, mit ihren Zweitstimmensitzen verrechnet. Im Regelfall führt dies dazu, dass einer Partei noch Listenmandate verbleiben, die dann auf die einzelnen Landeslisten entsprechend des Zweitstimmenanteils verteilt werden. Sollten ausnahmsweise mal  Überhangmandate entstehen – wie bei der Wahl 2009 bei der CSU – würden diese ausgeglichen werden.

Das zentrale Argument gegen das Wahlrecht der LINKEN war die Verzerrung des föderalen Proporzes. Es kann – im Ausnahmefall – tatsächlich passieren, dass die CDU genausoviel oder mehr Direktmandate bundesweit gewinnt, als ihr Zweitstimmen zustehen. Wenn diese Direktmandate nun ausschließlich im Westen und in Sachsen gewonnen werden, kann es sein, dass kein/e CDU-Vertreter/in aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern … in den Bundestag einzieht. Wir sagen, dass dies – im Rahmen einer Güterabwägung – hinzunehmen wäre, zumal es ähnliche Effekte auch beim nunmehr verabschiedeten Wahlrecht gibt. So kann es zum Beispiel passieren, dass sowohl die SPD in Mecklenburg-Vorpommern als auch die CDU in Sachsen-Anhalt auf der ersten Stufe (Verteilung der 598 Mandate) ein Mandat mehr haben, als mit dem vergrößerten Bundestag. Das jedenfalls belegen Modellrechnungen mit dem Wahlergebnis von 2009.

Letztendlich ist eine Abwägung zu treffen gewesen: Alle vier Prinzipien (kein negatives Stimmgewicht, keine Überhangmandate, föderaler Proporz, Vergrößerung des Bundestages) vollständig zu erfüllen geht nicht, solange am Zwei-Stimmen-Wahlrecht festgehalten wird. Verfassungsrang hat die Vermeidung des negativen Stimmgewichts und die Vermeidung von Überhangmandaten. Die anderen beiden Prinzipien sind eine politische Abwägungsfrage.

Die Lösung des Problems wäre einfach. Aus meiner Sicht – aber das ist nicht die Auffassung der Fraktion – könnten wir ein Ein-Stimmen-Wahlrecht einführen mit der Möglichkeit, zu panaschieren. Der/Die Bürger/in bekommt einen Wahlzettel mit Parteien und darf auf diesem Wahlzettel bis zu drei Kreuze bei verschiedenen Kandidierenden machen. Das leistete im Übrigen auch ein Beitrag dazu, das Parteienmonopol ein wenig zu hinterfragen.

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