Die wirtschaftswissenschaftlichen Diskussionen in Russland werden hierzulande weitgehend ignoriert. Wirtschaftspolitik und das Handeln von Unternehmen sind meist nur dann Gegenstand, wenn die Interessen westeuropäischer Staaten oder Unternehmen betroffen sind. Dabei wird übersehen, dass es eine sehr breite und teilweise auch erbitterte Auseinandersetzung über die Zukunft der russischen Wirtschaft gibt. Die festen Machtpositionen des nun zwanzigjährigen Großkapitals und deren Verflechtungen mit dem Staat haben vielleicht ein stabiles politisches, aber ein unsicheres soziales und wirtschaftliches Fundament. Spiegelbild der Differenzen sind z.B. die Gründung des wirtschaftsliberalen Gaidar-Fonds oder die Auseinandersetzungen um die Zeitschrift Voprossy Ekonomiki vor einiger Zeit.
Das Spektrum wirtschaftswissenschaftlicher Auffassungen ist tatsächlich breit. Es reicht von rätekommunistischen bis hin zu extrem wirtschaftsliberalen und autoritären Vorstellungen. An dieser Stelle wurde verschiedentlich schon auf die Ansätze von Aleksandr Buzgalin und seines Umfeldes (als Schule des kritischen Marxismus) hingewiesen. Buzgalin, Kargalitzky und andere dezidiert linke WissenschaftlerInnen sind in den internationalen Debatten auch immer wieder mit Beiträgen präsent. Oft sind sie mit verschiedenen sozialen Bewegungen eng verbunden.
Viele TheoretikerInnen greifen aber auch Traditionen des russischen bürgerlichen ökonomischen Denkens vor 1917 auf, die übrigens (z.T. untergründig) auch in der Sowjetunion immer präsent waren. Insofern ist die Breite der Debatte wie auch ihre mitunter verstörende Grellheit keinesfalls überraschend. Das heutige russische ökonomische Denken hat eine eigene Tradition, die sich nicht auf die Linie Marx-Lenin reduzieren läßt, wie im Westen oft angenommen und wie es die Lehrbücher in sowjetischen Zeiten meist nahe legten. Gerade in den Debatten, die den historischen Platz des realen Sozialismus und seine Merkmale betrafen, oder auch in der Reflexion des Verhältnisses Mensch-Umwelt war eine Offenheit weit über Marx und Lenin anzutreffen. Angesichts der gegebenen politischen Strukturen im heutigen Russland ist diese Breite nicht zuletzt als Suche zu verstehen.
Wir wollen diesmal einen Ansatz vorstellen, der keynesianische Traditionen aufgreift und davon ausgehend eine Kritik der theoretischen Grundlagen des wirtschaftlichen Kurses in Russland unternimmt. Vor einigen Wochen hat der nun 85jährige Soltan Dzarasov ein Buch vorgelegt, das anknüpfend an die Keynesjubiläen in diesem Jahr der Notwendigkeit eines alternativen plan- und marktwirtschaftlichen Wirtschaftsmodells in Russland begründen will. Sein Kollege Georgij Cagolov hat aus diesem Anlass einen Artikel in Form eines Interviews, in dem wesentliche Fragen des Buches behandelt werden, verfasst. Der Artikel wurde uns von Dr. Ruth Stoljarowa zur Verfügung gestellt und übersetzt. Er steht hier als pdf-Datei zum download bereit.
Russland braucht ein neues, alternatives Entwicklungsmodell
10. Dezember 2012 | Lutz Brangsch