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Wulff muss bleiben

„Die Art und Weise, wie das Amt des Präsidenten von den Parteien in der Krise behandelt wird, bestärkt den Verdacht, dass die Regenerationsfähigkeit der Politik immer kleiner wird.“ schreibt Frank Schirrmacher in der heutigen Ausgabe der FAZ [4]. Der Wulff’schen Geschichte können nur glauben, wer „dafür seine gesamte Lebenserfahrung aufgibt“. Wer den Anteil der FAZ am Absturz des KTGuttenberg erinnert, hört erneut das tief verstörte Grummeln über das geschäftsführende politische Personal der bürgerlichen Klasse heraus: den Verrat an den eigenen Werten ginge mittlerweile so weit, dass darauf keine wertkonservative kulturelle Hegemonie mehr zu gründen sei und vielleicht auch kein Staat mehr, der seine Legitimation aus höheren Werten ableitet. Der Schleier lüftet sich, und Frank Schirrmacher zitiert Colin Crouch:

„Die Affäre um Wulff ist ein weiteres Symptom jener postdemokratischen Zustände, die neue Partizipationsbewegungen entstehen lassen – womöglich auch viel unsanftere, als es die „Piraten“ heute sind. Colin Crouch, der wirkungsvoll wie kaum ein anderer das postdemokratische Zeitalter beschrieben hat (in dem sich Wirtschaft und Politik informell arrangieren und das Ideal des demokratisch aufgeweckten Bürgers so sehr in den Hintergrund tritt, wie das postindustrielle Zeitalter den traditionellen Arbeitnehmer marginalisierte), nennt ein Datum, das dieses Zeitalter endgültig einleitete und ihm die Augen öffnete: als bekannt wurde, dass Peter Mandelson, britischer Minister für Handel und Industrie, einen sehr marktunüblichen Kredit zum Erwerb seines Eigenheimes bekam.“

In der Tat, die „Affäre Wulff“ ist eine „Affäre Politisches System“. Wulff nutzt kostenlos die Urlaubsdomizile befreundeter Kapitalisten? Ist das nicht viel lebensnäher und glaubwürdiger als die Behauptung von Bettina Schausten, für eine Nacht im Gästezimmer von Freunden 150 Euro auf den Frühstückstisch zu legen? Wulff nimmt einen „Privatkredit“ von der Gattin seines väterlichen Kapitalisten-Freundes an, um sich und seiner Frau den Traum vom kleinbürgerlichen Ziegelhäuschen zu erfüllen und sieht das als eine „gute Geldanlage“ der Kapitalisten-Gattin in Zeiten höchst riskanter Börsenbewegungen? Ist das nicht viel lebensnäher und glaubwürdiger als die Behauptung, dass Finanzkapitalisten und ihre Juristen, die maßgeblich ein Gesetz zur Bankenrettung mitformulieren, dabei vor allem und nichts anderes als das Allgemeinwohl im Auge hatten? Wulff hat versucht, die Berichterstattung der Presse in seinem Sinne zu beeinflussen? Ja, tun das nicht alle, im Unterschied zu Wulff nicht persönlich, sondern durch hochbezahlte spin doctors, Presseabteilungen und zur Not Medienanwälte, und wollte nicht noch jede Politikerin und Politiker die Chance haben, ihre und sein Sicht der Dinge darlegen zu können?

Wulff steht nicht über dem Zustand, in dem sich Politik, Staat und Gesellschaft hierzulande befinden. Er repräsentiert sie so authentisch wie kein Bundespräsident zuvor seit Heinrich Lübke. Er ist in der Tat „die Stimme des Staates“, nicht des Staates, wie er sein soll, sondern des Staates, wie er ist. So lange er im Amt ist, wissen wir, dass die Dinge nicht in Ordnung sind und darauf warten, in Ordnung gebracht zu werden. Ein Rücktritt würde nur einen neuen Versuch der politischen Klasse heraufbeschwören, einen gediegeneren Mantel über die miserablen Zustände zu legen. Nein, Wulff muss bleiben, bis er von einer demokratischen Erneuerungsbewegung aus dem Amt vertrieben wird. Was die Parteien des parlamentarischen Systems damit zu schaffen haben, wird sich zeigen: Reden sie weiter nur über die „Affäre Wulff“ und skandalisieren seine „unzureichenden Erklärungen“, oder skandalisieren sie die systematische Verbandelung des politischen Systems mit den Interessen des großen Kapitals und wirtschaftlicher Macht?

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1 Kommentar (Öffnen | Schließen)

1 Kommentar Empfänger "Wulff muss bleiben"

#1 Kommentar von Judith Dellheim am Januar 6, 2012 00000001 4:54 pm 132586888704Fr, 06 Jan 2012 16:54:47 +0000

Siehe auch Marian Krüger: “Politische Haustierschlachtung”. Das Grundgesetz und die Interessen im Hause Springer, Neues Deutschland 6.1.2012