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Nächstenliebe und Solidarität – als geistesgeschichtliche Phänomene und politisches Konzept

[1]Am Samstag wurde das Kolloquium [2] mit einem Vortrag von Hubert Cancik fortgesetzt, in dem er sich mit den Wurzeln der Begriffe der Nächstenliebe und des Humanismus auseinandersetzte. Er wies in einer ausführlichen Analyse der Geschichte dieses Konzeptes nach, dass es nicht etwa aus der christlichen Religion in das Säkulare „gewandert“ sei. Vielmehr war es umgekehrt. Das säkulare, aus einer sozialen und politischen Interessenkonstellation, ideologisch aus naturrechtlichen Vorstellungen erwachsende Konzept wurde durch die Kirchen absichtsvoll instrumentalisiert.
Cancik zeichnete eine geistesgeschichtliche Linie von Aristoteles über die Stoiker und Cicero hin zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den Verfassungen der Französischen Revolution. Er fordert damit dazu heraus, sich mit den Wurzeln vieler heute bestehender gesellschaftlicher Konzeptionen zu befassen, die oft „hinter unserem Rücken“ wirken. Schon Aristoteles (384-322 v.u.Z.) sprach offen aus – und begründete das naturrechtlich – , dass Wohlfahrt, Nächstenliebe usw. durchaus die Funktion haben, Stabilität im Lande zu wahren. Diese Wechselbeziehung von politisch-wirtschaftlichem Interesse und ideologischer Ausformung naturrechtlicher Vorstellungen finden wir dann immer wieder. Cicero formuliert 44 v.u.Z. den Satz: „Die Natur schreibt auch das vor, dass der Mensch dem Menschen, wer immer es sei, helfen wolle, genau aus diesem Grunde, weil der ein Mensch ist.“ Dies hinderte ihn keineswegs, auch brutaler Machtpolitiker zu sein. Erst die mit der griechischen und römischen Philosophie gegebenen Tendenz zu einer „Säkularisierung der Denkweise“ (Helmut Seidel) macht die Aneignung der „Nächstenliebe“ als Fundierung ideologischer und politischer Ansprüche durch die christliche Kirche möglich.
Andreas Henschel ergänzte die Gedanken Canciks aus der sicht theologischer Forschungen. Er wies nach, wie eng die Behandlung der Frage des Verhältnisses zum anderen Menschen von der spezifischen Situation der einzelnen frühchristlichen Gemeinden verbunden war. Der Übergang zur Staatsreligion und der Institutionalisierung in einer hierarchisch organisierten Kirche und allen damit verbundenen Widersprüchen transzendiert und ideologisiert das Konzept der „Nächstenliebe“.
Es sei angemerkt, dass die Ausführungen Canciks und Henschels angesichts der Debatten um „Leitkultur“ und „kulturelle Wurzeln“ Europas hochaktuell sind. So wird in letzter Zeit durch CDU-PolitikerInnen verstärkt versucht, mehr oder weniger offen einen ideolgischen Monopolanspruch ihrer Lesart des Christentums im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. So sagt der Generalsekretär der CDU Hermann Gröhe [3] in einem FOCUS-Interview:
„Gröhe: Als Christen können wir selbstbewusst darauf hinweisen, welch großen Beitrag die christliche Ethik zur Anerkennung der Menschenwürde, aber auch zur sozialen Marktwirtschaft geleistet hat. Wir sollten die christliche Prägung unserer Kultur bewusst pflegen, auch dadurch, dass in unseren Kindergärten, auch in städtischen KiTas die christlichen Feste gefeiert und erklärt werden. Halloween zu feiern, den Reformationstag oder Allerheiligen aber zu verschweigen, ist falsch. Und am 11. November sollten die Kinder etwas über Sankt Martin und seine Hilfsbereitschaft erfahren, statt ein inhaltsleeres Laternenfest zu begehen. Diese Feste prägen unsere Kultur, unsere Werte – über den persönlichen Glauben hinaus.“
Es ist eigentümlich, einem Laternenfest, bei dem Kinder Gemeinsamkeit erleben, Inhaltsleere zuzuschreiben. Vor allem die Reaktionen auf die Aussagen Wulffs zur Integrationsdebatte [4] zeigen, dass Gröhes Aussagen keinesfalls so harmlos sind, wie sie daherkommen. Und die Entscheidungen zu Hartz IV, die ausschließlich dem Ziel untergeordnet sind, Druck auf Arbeitslose auszuüben (den der „Sparbeitrag“ ist marginal) möchten eigentlich so gar nicht mit einem ernst genommen „christlich-abendländischen Menschenbild“ zusammen passen. Darauf war im Rahmen der Veranstaltung bereits Michael Klundt eingegangen.
In der Diskussion zu den Beiträgen wurde angemerkt, dass sich die Darlegungen auf die europäische Geschichte konzentrierten, aber natürlich auch in der Geistesgeschichte anderer Regionen der diskutierte Gedanke eine Rolle gespielt habe. Das müsste in den Debatten um ein modernes Solidaritätsverständnis eine noch viel größere Rolle spielen. Im chinesischen oder indischen Denken seihen etwa zur gleichen Zeit wie in Griechenland oder Rom durchaus ähnliche Konzepte zu finden.
Abschließend stellte Cancik fest, dass Humanismus keine kontinuierliche Schule ist, sondern ein Seil, in dem Fäden auch mal abreißen, neue auftauchen. Es sei eine offene Tradition mit unsicheren Grenzen. Das, so sollte man anfügen, macht ihn entwicklungsfähig und kann durchaus auch religiösen Sichtweisen auf die Welt Raum bieten. Cancik und Henschel entwickelten so einen anderen Blick auf “christlich-abendländische Wurzeln”.

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