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Drei Revolten erschütterten in diesem Jahrzehnt das bundesdeutsche Parteiensystem.

Die erste war der sozialpolitische Dissens einer neuen aufstehenden underclass in der SPD und den Gewerkschaften bei Hartz IV. Er suchte im Westen außerhalb des legitimen Parteienfeldes sein Sprachrohr, fand es in der PDS / WASG / Die LINKE und stabilisierte sich dort. Im Osten war diese wachsende Gruppe bereits legitim in der PDS repräsentiert. Mittlerweile fungiert die LINKE zunehmend als stabiler Ort dieser unteren prekären Mittelklasse, von Arbeitslosen und großen Teilen der Arbeiterschaft. Angesichts der sozialen Ausgrenzung oder Isolierung dieser Gruppen ist ein weiteres Wachstum nicht unmöglich, aber sehr schwierig. Die Kehrseite ist die – in der politischen Debatte der Partei geringgeschätzte – relative Basisstabilität, während die anderen Parteien zum Teil krass fluktuieren.

Die zweite Revolte war die kurzzeitige, bloß wahlpolitische Sammlung des marktradikalen Mittelklassenneoliberalismus in der Wirtschaftskrise seit 2007/8, welche die FDP in die bislang unerreichten Höhen von 14 % schleuderte. Dieser Aufstand brach zusammen, sobald die koalitionären Grenzen der Durchsetzungskraft der FDP spürbar und die Krisenregulierung partiell erfolgreich war. Ihr Kurs war zunehmend weder hegemonie- noch regierungsfähig.

Drittens findet gegenwärtig der krisen- und demokratiepolitische Dissens im urbanen Bildungs- und kleinerem Bürgertum sowie in den Mittelklassen sein Sprachrohr in den Grünen. Er ist keineswegs auf Baden-Württemberg begrenzt und hat durchaus starke linke, radikale und organisationsstarke Einsprengsel. Es sind Gruppen, die viel kulturelles und ökonomisches Kapital zu verlieren haben und eine geradezu phänomenale Mobilisierungskraft entwickeln können. Protest ist im übrigen für sie kein Lebensstil wie in Teilen der den post-68er Generationen, sondern durchaus eine Abweichung – also auch wenig Anschlusswille an die Dekaden der sozialen Bewegungen.

Im ersten Fall ist die SPD ein halbes Jahrzehnt lang in eine tiefe Legitimations- und Entwicklungskrise zurückgefallen, in der sie in fast allen politischen Fragen ihre Hegemoniefähigkeit auf frappierende Weise eingebüßt hat und ihre Politik daher wenig autonome Ausstrahlungskraft zustande bringt. Die FDP ist neuerdings in den Status einer labilen, machtpolitisch zutiefst verunsicherten Kleinpartei zurückgefallen. Der CDU droht nun mit S21 eine ähnlich massive Delegitimierung. Der „Fehlstart“ der schwarz-gelben Koalition könnte in einer wahl- und machtpolitischen Katastrophe kulminieren. Die zuspitzende, jede Vermittlung ablehnende Politik des harten, entscheidungsstarken, polarisierenden, sozialautoritären – also postdemokratischen – „Durchregierens“, zu der die Mappus, Seehofer und Merkel seit dem Desaster bei den Landtagswahlen in NRW umgeschwenkt sind, wird mit S21 auf seine erste Bewährungsprobe gestellt. “Es gibt kein Dazwischen”, sagt Rüdiger Grube. “Es geht nur um ein Ja oder Nein.”

Kommt es zu einem bewegungspolitisch erzielten Regierungswechsel („Mappus weg!“), dann steht die bürgerliche Koalition vor der Entscheidung, eine dramatisch geschwächte Politik zu radikalisieren (also eine Lagerbildung zu betreiben, bei der im Falle einer Niederlage bei den Bundestagswahlen zu den siegreichen Kontrahenten mit einiger Wahrscheinlichkeit die LINKE mit gehören wird) oder sie schon nach kurzer Zeit aufzugeben. In beiden Fällen wird sich dann die von Allensbach in einer Elitenbefragung zur Jahresmitte diagnostizierte tiefe Unzufriedenheit der „Topentscheider“ mit der schwarz-gelben Koalition massiv reartikulieren. Mit einigem Bedenken wird dort gesehen, wie die strategischen Fähigkeiten und Optionen der bürgerlichen Merkel-Regierung sich zersetzen und schrumpfen, weil sie die unterschiedlichen Strömungen nur noch mit viel Friktionen und Inkaufnahme von unerwarteten Fragmentierungen integrieren kann – und weil ihre muddling-through-Politik sich erschöpft. Die Eliten des Bürgertums stellen sozusagen die strategische Frage an die Regierungsmächte – und diese finden keine Option nachhaltiger Politik.

Doch wohin soll es denn gehen? Und welche parteipolitische und politikstrategisch hegemoniale Kraft kann sich im bürgerlichen Lager etablieren? Der schwarz-gelben Koalition gehen auf denkwürdige Weise die strategischen Varianten aus. Die gerade in Baden-Württemberg politisch-kulturell aussichtsreiche schwarz-grüne Konstellation – also die strategische Verbindung von alt- mit neundustrieller Macht, von fossilem und grünem Kapitalismus wäre auf Jahre durch eine im Kampf um S21 forcierte rot-rot-grüne Lagerbildung blockiert. Der „Atomkompromiss“ steht für eine äußerst offensive altindustrielle Absage an die Option, einen schwarz-grünen Richtungswechsel einzuschlagen, der auf ein neues grün-kapitalistisches Akkumulationsmodell zielt und das Mobilisierungs- und Netzwerkpotential der grünen Ressourcen für seine Legitimation langfristig zu nutzen versteht. Im altindustriellen Lager selbst gibt es keinen Konsens darüber, ob die lange, große Transformation zu einem anderen Akkumulationsmodell von ihm stabil kontrolliert werden kann.

Während die LINKE jahrelang – allerdings mit nunmehr abnehmender Wirksamkeit – eine Wendung des sozialpolitischen Protests nach rechts und eine rechtspopulistische oder sogar faschistische Artikulation integrativ weitgehend auffing, bilden die Grünen in Baden-Württemberg mit ihrem bodenständigen Reformismus, ihrem Klein- und Mittelunternehmertum und einer Massenkultur des grünen Kapitalismus  einen attraktiven Raum für eine Alternative innerhalb des legitimen Rahmens der Parteienordnung. Bundesweit sind die Grünen Hauptprofiteur der neoliberalen Krise und konnten ihre Position kontinuierlich ausbauen. Ihr von einem Teil der Mittelklasse getragenes Versprechen, die Ökologie mit herrschender Politik zu verbinden: also Kriegsfähigkeit in der Öffentlichkeit durchzusetzen, den Sozialabbau zu betreiben oder hinzunehmen und die Finanzmarktakteure zu unterstützen, hat sie endgültig kompatibel mit dem Gesamtspektrum des politischen Machtblocks gemacht. Mit dem Überschreiten der 20 Prozent-Grenze haben sie ihren Status als Juniorpartner überwunden – im Unterschied zur FDP, der das nie gelang. Sie operieren im öffentlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Raum. Ihre Kraft bezieht sie aus dem Versprechen, als Brückenakteur, Avantgarde und politischer Arm – ja: als politisch substantieller Hauptrepräsentant! – des staatsgestützten grünen Kapitalismus zu fungieren. Nach einer solchen Parteifunktion besteht jetzt Nachfrage, wogegen der alt- und kleinwirtschaftliche Bürgerliberalismus einer FDP klassischen Typs deutlich schwächelt.

Endlich: bei aller kulturellen und richtungspolitischen Verschiedenheit eint diese Revolten eine  Erfahrung: die der Ohnmacht ihrer Protagonisten, die sie in weittragende Bewegung setzte – und die des (zumindest zeitweiligen) parteipolitischen Erfolgs. Aktuell ist dieser Erfolg geradezu ein Nebeneffekt, die Entwertung und Erschütterung der alten „Volksparteien“ wirkt zeitweilig fast als selbstverständliche Beigabe: Baumschützer und Freunde des Juchtenkäfers bestimmen seit Wochen die Nachrichtenfolgen, Politikagenden und politische Rhetoriken. Mit dem „schwarzen Donnerstag“ wurde S21 binnen weniger Stunden auf die nationale Agenda gesetzt. Wenn nun ein unbedingter Willen zur Teilhabe weiterhin nicht als Essenz von Demokratie, sondern – um in den Worten des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle zu sprechen – als Beitrag zur „Unregierbarkeit“ und als unverständige Ignoranz von „Demokratie als Verfahren“ denunziert wird, welche es mit Wasserwerfern durchzusetzen gelte, dann wird die Causa Kopfbahnhof ein Schlüsselereignis in der politischen Vita der Republik und ihrer Demokratiegeschichte werden.

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