Andreas Fischer-Lescano stellt mit seiner Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung „Europäische Rechtspolitik und soziale Demokratie“ Positionen und Vorschläge vor, die unbedingt als Diskussionsangebot angenommen und gewürdigt werden sollten. Das schließt keineswegs Kritik aus. Diese ist schon deshalb gefordert, weil die Begriffe „Armut“ und „soziale Ausgrenzung“ im Text überhaupt nicht vorkommen und „Solidarität“ einzig in Bezug auf Aktivitäten sozialer Bewegungen. Aber die konsequente politische Auseinandersetzung mit insbesondere diesen Problemen ist unverzichtbar, soll das „Projekt einer Sozialunion“ Wirklichkeit werden.
Hervorzuheben sind insbesondere 1) das Bemühen des Autors, das widersprüchliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabonvertrags-Text (Juni 2009) für emanzipatorische Rechtspolitik zu nutzen, um die „Gleichursprünglichkeit sozialer und demokratischer Rechte auch in einer europäischen Sozialunion“ umzusetzen; 2) das Drängen auf ein solches Verhältnis von „Recht und Politik“, dass integrationspolitische Entscheidungen demokratisch getroffen werden; 3) die Orientierung auf Stärkung der sozialen und demokratischen Rechte sowohl in den EU-Mitgliedsländern als auch auf EU-Ebene; 4) die Forderung, den „Beitritt der EU zur Europäischen Sozialcharta” zu forcieren – in dieser ist der Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung sehr wohl durchgängig thematisiert. „Im Rahmen der Sozialcharta sollte zu dem bestehenden Kollektivverfahren ein Individualbeschwerdeverfahren eingerichtet werden. Dies sollte zur Gründung eines Europäischen Sozialgerichtshofes führen“; 5) die Unterstützung der Projekts eines Fortschrittsprotokolls und eines sozialen Stabilitätspaktes, um soziale Rechte zu stärken. Die zentrale Idee ist, die „Pluralität europäischer Sozialstaatssysteme zu organisieren, unterschiedliche Ordnungsmuster füreinander offen zu halten und ein Kollisionsrecht für eine europäische Sozialunion zu entwickeln, das für die Besonderheiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hinreichend Raum lässt.“ Als ein Mechanismus für diesen Ansatz wird die Entwicklung sozialer Mindeststandards gesehen, die nichtdiskriminierend durch höhere Schutzstandards ersetzt werden können, unterschiedlichen Traditionen und Möglichkeiten der Länder Rechnung tragen.
De Facto ist die Studie auch eine Kritik der Europäischen Grundrechtecharta, die sowohl die Europäische Sozialcharta als auch die Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte in entscheidenden Punkten nur ungenügend berücksichtigt. Das betrifft fundamentale Grundrechte, wie das Recht auf Arbeit, auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, auf Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung. Von grundsätzlicher Bedeutung für die Ausgestaltung der europäischen Sozialunion ist die Aufnahme des Rechts auf einen Existenz sichernden Mindestlohn bzw. eine individuelle Existenz sichernde Grundsicherung.
In der Diskussion zur Sozialunion und zum sozialen Stabilitätspakt sollte “aus Kreisen in und bei der RLS” erneut der Vorschlag zu Sozialkorridoren unterbreitet werden. Zur Erinnerung oder Information: Länder mit ähnlichen Sozialleistungsquoten (Verhältnis der Sozialausgaben zum Bruttoinlandsprodukt) würden jeweils in Gruppen zusammengefasst. Es wären verbindliche „Korridorgrenzen“ und Durchsetzungsmechanismen festzulegen. Sie sollen gekoppelt mit drohenden Sanktionen verhindern, dass die Länder die Anteile ihrer Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt absenken. Schließlich sind deutliche Steigerungen vonnöten.