Heute fand in Berlin eine Tagung statt, auf der der Paritätische Wohlfahrtsverband die Erfahrungen aus 20 Jahren Armutsberichterstattung reflektierte. Am 9. November 1989 wurde der erste Armutsbericht des Paritätischen vorgestellt – unter dem Titel „wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land“.
Tatsächlich wurde zu diesem Zeitpunkt Armut in der Bundesrepublik schlichtweg geleugnet – Armut war ein Tabu. In Diskussionen zum Einigungsvertrag etwa wurde in der noch-DDR der Verweis auf die „neue Armut“ in der BRD immer mit höhnischen Bemerkungen beantwortet. Es ist sicher ein bleibendes Verdienst des Paritätischen, dass er mit seinem Bericht von 1989 dieses Tabu gebrochen hat. R. Hauser bemerkte aber auch völlig zutreffend, dass das Tabu nun zwar gebrochen, das Problem aber nach wie vor vorhanden sei.
Allein dieser Widerspruch wirft eine Grundfrage auf – kann die politische Wirksamkeit durch eine bessere Fundierung der Berichte (Statistik usw.) oder durch eine grundsätzliche Veränderung der Entstehungsweise verbessert werden kann. Hauser warf selbst die Frage auf, wie die Sicht der Betroffenen in einem solchen Bericht aufgenommen werden soll, wenn nicht über Statistik. Er meinte, dass die Beteiligung sich in der Beteiligung von Organisationen erschöpfen müsse. Dies bedarf mit Sicherheit einer weiteren Diskussion, da die auch von Hauser betonte Ausdifferenzierung der armen Bevölkerung und eine fortschreitende regionale Differenzierung neue Fragen aufwerfen. Ambivalent auch die von Hauser und einigen DiskussionsteilnehmerInnen geforderte Abgrenzung der Armuts- von der Sozialberichterstattung. Es bestünde die Gefahr, dass das Problem der Armut sich in einem Sozialbericht auflösen würde. Dies ist sicher bedenkenswert. Andererseits wurde immer wieder die Problematik der Vieldimensionalität von Armut und armutsverursachenden Faktoren betont. Hauser sprach auch in diesem Zusammenhang von kaum auflösbaren Problemen. Wahrscheinlich liegt die Lösung tatsächlich auf der Ebene der Erarbeitung derartiger Berichte. Im Kern haben wir es hier mit grundlegenden Fragen des Verständnisses von Demokratie auf der einen Seite und Wissenschaft auf der anderen Seite zu tun. Unter dem Aspekt der Demokratie stellt Armutsberichterstattung nicht nur eine Grundlage für Entscheidungen von Verwaltungen und Parlamenten dar. Es werden, und das wurde ja durch die Geschichte der Armutsberichterstattung in der BRD eindrucksvoll bestätigt, politisch wirksame Bilder von Gesellschaft und von sozialen Gruppen geschaffen. Indem Menschen in bestimmten Lebenslagen sichtbar werden, verändern sich politische Gewichte. Es wird die Möglichkeit geschaffen, dass diese Menschen nicht nur als Betroffene sichtbar werden, sondern grundsätzlich auch, dass sie sprechen können. Armut als Realität ist heute zweifelsfrei anerkannt, allerdings steht die Umsetzung der zweitgenannten Möglichkeit in Wirklichkeit noch weitgehend aus. Auch schlägt Anerkennung des Faktes nicht zwangsläufig in Akzeptanz eigenständiger Rechte der Armen um. Schon gar nicht entsteht automatisch Solidarität zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen oder auch der Betroffenen untereinander.
U. Schneider konstatierte im zweiten Teil der Veranstaltung, dass sich der Erfolg der Enttabuisierung in eine „Entgrenzung“ des Armutsbegriffs und das Ausspielen verschiedener Statistiken gegeneinander umgeschlagen ist. Das hat dazu geführt, dass der Begriff Armut seine Brisanz verloren habe. Auch sei der Armutsbericht nun unter der Interpretationshoheit der Bundesregierung. Der 3. Armutsbericht diente nur noch der Selbstdarstellung und Selbstlegitimierung der Bundesregierung.
Hier liegt m.E. die Herausforderung an die Zukunft der Sozial- und Armutsberichterstattung. Sie muss als organisierender Prozess und als Prozess des sozialen Lernens verstanden und konzipiert werden. Ungerechtigkeit muss als solche auch empfunden werden, nicht nur statistisch nachvollziehbar sein. Armutsberichterstattung muss „von unten“ und in einem deliberativen Prozess entstehen. Insofern muss sie wenigstens teilweise auch den WissenschaftlerInnen und Verbänden aus der Hand genommen werden. Sie muss sich ihres grundsätzlich politischen Charakters bewusst werden, wenn sie verändernd wirken soll. U. Schneider sprach davon, dass sich die Zivilgesellschaft die Armutsberichterstattung „zurückholen“ solle, wobei er eher die Verbände im Blick hatte.
Natürlich ist dieser Anspruch nicht durch die Berichte allein zu erfüllen, sondern vor allem durch den Umgang mit ihnen. Allerdings sind diese Berichte keine wissenschaftlichen Studien, sondern tragen a priori politischen Charakter. Angesichts der in der Koalitionsvereinbarung umfänglich geforderten Überprüfung von Leistungen und Institutionen wird die Frage nach Kriterien von Politik wieder große Bedeutung erlangen. Das heißt aber auch, die Frage nach der Grundlage zu stellen, auf der Kriterien formuliert werden. In diesen Auseinandersetzungen können die Armuts- und Sozialberichte, die es ja von der Bundes- bis zur kommunalen Ebene gibt, eine gute Grundlage sein. Übrigens werden auch auf der Ebene der EU und auf globaler Ebene vielfältige Analysen erarbeitet, die hier herangezogen werden könnten.
Die rls hat diesem Thema ein mehrjähriges Projekt gewidmet.
Aktuelle Veröffentlichungen des Paritätischen, darunter auch der Armutsatlas und Analysen zu Hartz IV weiter
Nachdenken zu 20 Jahre Armutsberichterstattung
5. November 2009 | Lutz Brangsch