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mathe Neulich fand der Kölner Hauptzoll heraus, dass es im Friseurgewerbe tatsächlich Menschen gibt, die für 1,50 Euro die Stunde arbeiten. Weil sie es müssen. Weil sie sehr abhängig seien von ihrem Arbeitgeber, erklärt der Zoll, und auf dem regulären Arbeitsmarkt nur schwer einen Job fänden. Angesichts solch anrüchiger Zustände in der Gilde der Haarschneider ließ sich die Berliner Zeitung zu der Bemerkung hinreißen, den Friseuren seien Schneiden, Waschen, Föhnen anscheinend „nur ein paar Cents wert“ (Berliner Zeitung, 10./11. Oktober 2009). Ver.di spricht von „modernen Sklavenlöhnen“ und „mangelndem Unrechtsbewusstsein“. Einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn für die Branche gibt es nicht, anders als Bauarbeiter, Gebäudereinigerinnen, Postboten, Müllmänner und Wäscherinnen können sich Friseurangestellte auf keine gesetzliche Lohnuntergrenze berufen. Im selben Artikel wird eine Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) angeführt, derzufolge in Deutschland inzwischen 6,5 Mio. Menschen unterhalb der Niedriglohnschwelle arbeiten. Die beim Zoll angesiedelte „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“, laut dem Entsendegesetz zuständig für die Kontrolle der Löhne und Arbeitsbedingungen, hat also alle Hände voll zu tun. Und es sieht nicht so aus, also ob die Gelegenheiten für „sittenwidrige“ Löhne, wie es im offiziellen Jargon heißt, abnähmen. Denn wer sich nicht auf tarifliche oder gesetzliche Mindeststandards berufen kann, muss oft akzeptieren, was seine Arbeit dem Chef „wert ist“. Und die guten Sitten sind bekanntlich dehnbare Kategorien. Mathematik indes nicht. Da fällt mir ein anderer Artikel ein: Die Frankfurter Allgemeine, wahrlich nicht des heimlichen Sprachrohrs der Arbeiterklasse verdächtig, hat mich auf eine Idee gebracht, wie in dieser Situation professionelle Abhilfe geleistet werden könnte. In ihrer Beilage für „Beruf und Chance“ stellt sich die Zeitung für Deutschland die Frage, wie viel Mathematik die Ökonomie verträgt, ohne in realitätsfernen Formeln zu erstarren (FAZ, 5. September 2009). Unter der Überschrift „Wirtschaft mal Mathe im Quadrat“ begleitet sie straighte Nachwuchsökonomen auf ihrer Karriereleiter durch die Graduiertenschulen der Exzellenzinitiative Deutschlands. Sichtlich zufrieden nimmt sie zur Kenntnis, mit welcher Leidenschaft die angehenden Doktorinnen und Doktoren die „Sprache der Kurven und Formeln“ beherrschen und ehrgeizig das große Einmaleins der Volkswirtschaft pauken. Kurzum: „Zahlen und Statistiken sind ihre Lust“, weiß die FAZ erfreut zu berichten. Zwar müsse Deutschland seine Newcomer-Ökonomen mit Blick auf die US-Kaderschmieden erst noch „auf den Stand der Wissenschaft“ bringen, damit die Zöglinge dann „mathematisch-konzeptionell“ auf dem nötigen Niveau mitmischen können. Denn diese hohen Maßstäbe gälten für alle, die „später Empfehlungen an die Politik abgeben“ wollten. Doch sollten die Alumni auch nicht zu Fachidioten herangezüchtet werden. Die FAZ weiß deshalb: im „Ökonomenstreit“ beklagen Verfechter einer „ordnungsökonomischen Ausrichtung“ beispielsweise, „dass die Wirtschaftspolitik an den Universitäten zurückgedrängt werde und immer mehr Ökonomen die Realitätsnähe ihrer Analysen dem Ziel formal-logischer Stringenz opferten“. Also: es geht darum, wirklichkeitstaugliche Experten in spe für die rechnerische Bewältigung der Herausforderungen der Herrschenden zu schulen. Denn – und das zeigt sich am Ende des Artikels, die Nachwuchswissenschaftler müssen sich „ein unabhängiges Urteil bilden können“. Unter anderem wofür? Das Schöne ist, dass die FAZ sich nicht zu fein ist, die anstehenden Aufgaben ungeschminkt beim Namen zu nennen: das unabhängige, ausgewogene und exzellenzinitiativ geschulte Urteil der Graduierten wird nämlich zum Beispiel gebraucht „bei der Ausarbeitung von Hartz-IV-Programmen [sic] im Ministerium“.

Nun ist mein frommer Wunsch, die angehenden Spezialisten mögen ihre profunden Kenntnisse in Arithmetik, Stochastik und Differentialgleichung im Laufe ihres Studiums so weit perfektioniert haben, dass am Ende ihrer komplexen Kurven und Rechnungen im Dienste unserer Ministerien folgendes – mathematisch wasserdichtes – Ergebnis herauskomme: ja, Menschen müssen tatsächlich essen. Und Essen kostet monatlich Geld. Und wenn die Primusse unter ihnen, diejenigen, die an besonderen Herausforderungen Gefallen finden, noch einen empirischen Zusatzkurs belegen, dann mögen sie auch zu der logisch-formal einwandfrei berechenbaren Erkenntnis gelangen, dass 1,50 Euro pro Stunde zum Überleben nicht ausreichen. Nicht auszudenken, dass die erste Differentialableitung dieser Erkenntnis lauten könnte: der Hartz-IV-Satz ermöglicht keine würdevolle Existenz, keinen Zugang zum kulturellen Leben, kein gesundes Essen, keinen Urlaub. Und wer mit überdurchschnittlicher Intelligenz geschlagen ist, könnte seine Doktorarbeit an einer der Graduiertenschulen der Exzellenzinitiative zu der Frage schreiben, um wieviel der Mindestlohn oder Hartz IV erhöht werden müssten, um aus „Leistungsempfängern“, „Sklaven“ und „Kunden“ Menschen zu machen.

2 Responses to ““Elend mal Exzellenz im Quadrat””

  1. Also, wirklich gut gemeinter rat,das kann man/frau verstehen, aber sorry … ein bischen viel mein ich mal, wenngleich gute tips ..

  2. Issac Maez sagt:

    Manchmal ist es doch schön, so rumzustöbern und irgendwo zu landen, wo man eigentlich nichts zu suchen hat:

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